»Von andern Lippen!« wiederholte sie lautlos.
»Ja. Ich kenne dein treues Gemüt. Ich weiß, wie fest du bist, und daß ein Wort der Vorbereitung bei dir genügt. Du sagtest, die Zeit sei genaht. Sie ist da. Sage mir, ob du stark genug bist, eine Überraschung, eine Erschütterung zu ertragen: dann harrt der Bote schon vor der Tür.«
»Welcher Bote?« fragte sie. »Und was für eine Nachricht bringt er?«
»Ich darf nicht mehr sagen«, versetzte er mit demselben festen Blick. »Glaubst du mich zu begreifen?«
»Ich zittere bei dem Gedanken«, sagte sie.
Trotz seiner ruhigen Miene lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, der sie in Schrecken setzte. Von neuem barg sie ihr Antlitz an seiner Brust und bat ihn bebend, noch einen Augenblick zu warten.
»Mut, arme Grace! Wenn du genug Kraft hast, harrt der Bote schon vor der Tür. Die Sonne geht über Marions Geburtstag unter. Mut, Mut, Grace!«
Sie erhob den Kopf, blickte ihn an und erklärte, sie sei bereit. Indessen sie so dastand und ihm nachschaute, ähnelte sie Marion in deren letzten Zeit wunderbar. Er nahm ihr Kind zu sich. Sie rief es zurück – es hatte der verlornen Schwester Namen – und drückte es an ihr Herz. Aber als sie die Kleine wieder losließ, eilte diese ihm nach; und Grace war allein. Sie wußte nicht, was sie ängstigte oder was sie erhoffte, sondern blieb ohne Regung stehen und schaute nach der Tür, durch die sie entschwunden waren.
Himmel, was ist das, was aus dem Schatten hervor sich nähert und auf der Schwelle verweilt? Diese Gestalt in dem weißen, von der Abendluft bewegten Gewand, das Haupt zärtlich ruhend an ihres Vaters Brust! Gott, war es ein Traumgesicht, das sich aus ihres Vaters Armen losriß und mit einem Schrei in heißer Liebesfreude ihr in die Arme sank?
»Marion, Marion! Meine Schwester! Mein teures geliebtes Herz! Ach unsagbares Glück des Wiedersehens!«
Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht beschworenes Bild der Phantasie, es war Marion selbst! So hold, so glücklich, so unberührt von Schmerz und Leiden, so schön in ihrer Anmut, daß, als die Sonne auf ihr gen Himmel gewandtes Antlitz leuchtete, sie wie ein Engel aussah, der die Erde segenspendend aufsuchte.
Marion hielt ihre Schwester umarmt, die auf eine Bank gesunken war, und neigte sich zu ihr nieder. Sie lächelte durch ihre Tränen, und nun kniete sie vor ihr hin und konnte keinen Augenblick das Auge von ihr wenden. Endlich brach sie das Schweigen, und ihre Stimme klang klar, leise und harmonisch in die Stille des Feierabends.
»Als ich noch unter diesem geliebten Dache lebte, Grace –«
»Mein süßes Herz! Nur einen Augenblick! O Marion, dich wieder reden zu hören!«
Sie konnte die geliebte Stimme nicht ohne tiefe, fast schmerzliche Erschütterung vernehmen.
»Als ich noch unter diesem Dache lebte, Grace, liebte ich ihn von ganzer Seele. Ich liebte ihn auf das innigste. Ich hätte für ihn sterben können, wiewohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Gemüt; nicht einen einzigen Augenblick. Sie war mir teurer, als ich es zu beschreiben vermag. Obwohl es lange her ist, längst vergangen und alles ganz anders geworden, so konnte ich doch den Gedanken nicht ertragen, daß du etwa glaubtest, ich hätte ihn ehedem nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie mehr, Grace, als an dem Tage, da er von hier Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr, als an dem Abend, da ich von hier flüchtete.«
Ihre Schwester vermochte nur ihr ins Antlitz zu schauen und sie fest in den Armen zu halten.
»Aber ohne es zu ahnen«, sagte Marion sanft lächelnd, »hatte er ein anderes Herz gewonnen, ehe ich überhaupt eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz – deines, Schwester – war so erfüllt von Liebe zu mir, war so opferbereit und edel, daß es seine Liebe verhüllte und sie geheimhielt vor den Augen aller, außer vor den meinen – ah, welche Augen wären auch so von Liebe und Dankbarkeit geschärft gewesen! – und sich für mich aufopferte. Aber ich kannte die Tiefe dieses Herzens. Ich kannte den Kampf, den es ausgefochten. Ich wußte, wie hoch und unermeßlich sein Wert für ihn war und wie teuer er es schätzte, mochte er auch mich lieben. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen verdankte, ich hatte sein schönes Beispiel täglich vor Augen. Was du für mich getan hast, Grace, das wußte ich, würde ich auch für dich tun können, wenn ich den Willen dazu hatte. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne Gott mit Tränen zu bitten, daß er mir die Kraft dazu verleihen möge. Ich begab mich nie zur Ruhe, ohne an Alfreds eigene Worte beim Abschied zu denken, daß täglich in menschlichen Herzen Siege gewonnen würden, gegen die jene Schlachtfelder zu nichts würden. Und als ich immer mehr und mehr an die Entsagung dachte, die sich täglich in der Welt ereignet und die gemeinhin so wenig beachtet wird, da fühlte auch ich, daß mir meine Prüfung täglich leichter ward! Gott aber, der jetzt in unser Herz blickt und weiß, daß kein Tropfen Kummer oder Schmerz in dem meinen ist, nichts als Glück, verlieh mir die Kraft zu dem Entschluß, nie Alfreds Gattin zu werden. Daß er mein Bruder und dein Gatte werden sollte, wenn mein Beginnen dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, daß ich aber nie (Grace, ich liebte ihn damals innig!) sein Weib werden wollte!«
»O, Marion! O, Marion!« hauchte Grace.
»Ich bemühte mich zu tun, als ob er mir gleichgültig wäre«, und sie legte das Gesicht ihrer Schwester an ihre Wange, »aber das war zu schwer, und du sprachst immer eifrig für ihn. Ich bemühte mich, dir meinen Entschluß zu gestehen, doch du wolltest mich nie hören – nie verstehen. Die Zeit seiner Rückkehr kam herbei. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe dieser tägliche Verkehr neu auflebte. Ich fühlte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns alle langen Leiden ersparen könnte. Ich wußte, daß, wenn ich vor ihm flüchtete, schließlich das eintreten müßte, was eingetreten ist, und was uns beide so glücklich gemacht hat, Grace! Ich schrieb an Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Heim: ich sagte ihr damals nicht die ganze Wahrheit, aber sie erfüllte mir gern meine Bitte. Während meine Entschlußkraft noch mit mir und meiner Liebe zu Euch und dem Vaterhaus um Entscheidung rang, ward Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«
»Ich habe das in letzter Zeit zuweilen gefürchtet,« rief ihre Schwester aus und wurde totenblaß. »Du liebtest ihn nie und hast aus Entsagung geheiratet!«
»Er war damals«, sagte Marion und zog ihre Schwester näher zu sich heran, »im Begriff, heimlich ins Ausland zu fliehen. Er schrieb an mich, offenbarte mir seine Verhältnisse und Aussichten und bot mir seine Hand an. Er erklärte mir, er habe empfunden, daß ich Alfreds Rückkehr nicht freudig entgegensähe. Ich glaube, er war der Ansicht, mein Herz hätte keine Neigung zu diesem Bündnis, oder ich hätte ihn wohl früher geliebt, liebe ihn indessen nicht mehr; oder ich suchte Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber ich wollte, daß Alfred glauben sollte, ich sei ganz für ihn verloren. Verstehst du mich, geliebte Schwester?«
Ihre Schwester blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie schien in Unklarheit zu sein.
»Ich traf mich mit Mr. Warden und vertraute mich seiner Ehre an; ich offenbarte ihm mein Geheimnis am Abend vor seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt. Verstehst du mich, Liebste?«
Grace schaute verwirrt um sich. Sie schien es kaum zu hören.
»Geliebte Schwester!« sagte Marion, »sammle deine Gedanken für einen Augenblick: höre mich. Blicke mich nicht so seltsam an. Es gibt Länder, wo die Menschen, die eine widerspenstige Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz ihrer Brust heilen wollen, sich in immerwährende Einsamkeit zurückziehen und für ewig der Welt und deren Gefühlen den Abschied geben. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der mir durch dich so lieb ist, und nennen sich Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die unter Gottes freiem Himmel und im geschäftigen Menschengewühl, wo sie möglichst bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, ein Gleiches lernen. Mit noch unverbrauchtem und jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück können sie sagen: der Kampf ist langst vorbei, der Sieg längst gewonnen. Und eine solche Schwester bin ich! Begreifst du mich jetzt?«
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