Michael Warden, der Clemency noch immer ansah, wandte sich zu Snitchey, als dieser aufhörte zu reden, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ach, die arme Frau!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf, »Ja. Sie hing immer sehr an Marion. Schöne Marion! Arme Marion! Aber Kopf hoch, liebe Frau – Sie sind ja jetzt verheiratet, Clemency.«
Clemency seufzte nur und schüttelte das Haupt.
»Nur Geduld bis morgen«, sagte der Advokat voll Güte.
»Das Morgen macht die Toten nicht lebendig, Herr«, sagte Clemency schluchzend.
»Dies freilich nicht, sonst würde es auch Mr. Craggs, selig, wieder lebendig machen«, erwiderte der Anwalt. »Jedoch Trost kann es bringen. Geduld bis morgen.«
Clemency schüttelte die hingestreckte Hand und versprach sich zu beruhigen. Britain aber, der beim Anblick seiner kummervollen Gattin (es war gerade, als lasse das ganze Geschäft den Kopf hängen) ganz niedergeschlagen worden war, erklärte, so sei es richtig. Mr. Snitchey und Michael Warden gingen hinauf und waren droben alsbald in eine so vorsichtig gehaltene Unterredung vertieft, daß durch das Klirren der Teller und Schüsseln, das Zischen der Pfannen, das Prutzeln in den Kasserollen, das gleichförmige Schnurren des Bratspießrades – das von Zeit zu Zeit schrecklich gluckste, als sei ihm in einem Anfall von Schwindel etwas zugestoßen – und die andern Vorbereitungen zu ihrem Diner in der Küche auch kein Wörtchen hörbar ward.
Der folgende Tag war schön und heiter, und nirgends sah die herbstlich gefärbte Landschaft schöner aus, als von des Doktors freundlichem Obstgarten her. Der Schnee vieler Winternächte war hier zerronnen, die welken Blätter manches Sommers hatten hier geraschelt, seitdem sie geflüchtet war. Die Jelängerjelieber-Laube war wieder grün, die Bäume warfen schöne wechselnde Schatten auf den Rasen; die Landschaft war so heiter ruhig, wie sie nur sein konnte. Wo aber war sie?
Nicht hier. Nicht dort. Sie wäre jetzt ein seltsamer Anblick in dem alten Haus gewesen, seltsamer selbst, als anfangs das Haus ohne sie. Aber an ihrem gewohnten Platz saß eine Dame, aus deren Herzen sie nie entschwunden war; in deren treuer Erinnerung sie fortlebte, unverändert, im vollen Glanz ihrer Jugend und Schönheit; in deren Liebe – und es war nur die Liebe einer Mutter: eine geliebte kleine Tochter spielte neben ihr – sie keine Nebenbuhlerin, keine Nachfolgerin hatte und auf deren zarten Lippen ihr Name jetzt hauchte.
Der Geist der entschwundenen Jungfrau schaute aus diesen Augen; aus diesen Augen Graces, ihrer Schwester, wie sie mit dem Gatten an ihrem Hochzeitstag und Marions Geburtstag im Obstgarten saß.
Er hatte es zu keinem berühmten Namen gebracht, hatte auch keine Reichtümer gesammelt, hatte aber die Umwelt und die Freunde seiner Jugend nicht vergessen; er hatte keine von des Doktors Voraussagungen erfüllt. Aber bei seinen stillen und wohltuenden Besuchen in niedern Hütten; bei seinen Nachtwachen am Krankenlager und bei seiner täglichen Erkenntnis des vielen Schönen und Guten, das auf den Seitenwegen des Lebens blüht und nicht niedergetreten wird von dem schweren Fuß der Armut, sondern kräftig emporsprießt in ihren Spuren, hatte er von Jahr zu Jahr die Wahrheit seines alten Glaubens besser gelernt und bewiesen. Seine Lebenshaltung, so ruhig und bescheiden sie auch war, hatte ihm bewiesen, wie oft sich noch immer Engel der Menschen annehmen, wie in alter Urzeit; und wie oft die unscheinbaren Gestalten – selbst manche, die dem Äußern nach gewöhnlich und häßlich erscheinen und in Lumpen gekleidet sind – am Schmerzenslager des Kranken in einem neuen Licht erscheinen und sich zu hilfsbereiten Engeln wandeln mit einer Strahlenkrone um das Haupt.
Er hatte vielleicht seinen Menschenberuf besser erfüllt auf diesem alten Schlachtfeld, als wenn er ohne Rast auf ruhmvolleren Bahnen gekämpft hätte; und er war glücklich mit seiner Gattin Grace.
Und Marion? Hatte er sie vergessen?
»Die Zeit ist seither schnell vergangen, liebe Grace«, sagte er – sie sprachen von jener Nacht – »und doch scheint es schon lange gewesen zu sein. Wir zählen nach den Wandlungen und Erlebnissen in uns, nicht nach Jahren.«
»Aber auch Jahre sind verstrichen, seitdem Marion uns verlassen«, entgegnete Grace. »Sechsmal, lieber Mann, den heurigen Tag mit inbegriffen, haben wir an ihrem Geburtstag hier gesessen und von ihrer so heiß ersehnten und so lange aufgeschobenen Rückkehr gesprochen. Wann wird dies endlich der Fall sein!«
Ihr Gatte sah sie aufmerksam an, wie sich die Tränen unter ihren Wimpern sammelten, und sagte dann, sie näher zu sich ziehend: »Aber Marion erklärte dir doch in ihrem Abschiedsbrief, den sie auf dem Tisch zurückließ und den du so oft liest, daß Jahre darüber hingehen müßten, ehe dies eintreffen könnte. Ist das nicht wahr?«
Sie zog den Brief aus der Brust, küßte ihn und sagte: »Ja«.
»Daß sie während dieser Zeit, so glücklich sie auch sein möge, auf die Zeit harren werde, wo sie heimkehren und alles aufklären könne; und daß sie dich bitte, im gleichen Sinn zu hoffen und zu vertrauen. Das steht im Brief, nicht wahr. Liebste!«
»Ja, Alfred!«
»Und in jedem Brief, den sie seither geschrieben?«
»Außer in dem letzten – vor einigen Monaten – in dem sie von dir schrieb und von dem, was du damals erfahren und was ich heute abend hören sollte.«
Er blickte nach der Sonne, die sich dem Abend zugeneigt hatte, und sagte, die angesetzte Zeit sei Sonnenuntergang! –
»Alfred!« sagte Grace und legte innig die Hand auf seine Schulter; »es steht etwas in dem Brief, was ich dir nie mitgeteilt habe. Aber heute abend, geliebter Gatte, da dieser Sonnenuntergang naht, und unser Leben mit dem scheidenden Tage feierlicher und stiller zu werden scheint, kann ich es nicht verbergen.«
»Was ist es, Geliebte?«
»Als Marion von uns ging, schrieb sie in diesem Brief, daß, wie du sie mir einst anvertraut, sie dich jetzt in meine Hände lege, Alfred; sie beschwor mich im Namen meiner Liebe zu ihr und zu dir, nicht die Neigung zurückzuweisen, die du, wie sie wisse, auf mich übertragen würdest, sobald die noch frische Wunde geheilt sei, sondern sie zu ermuntern und zu erwidern.«
»Und um mich wieder zu einem glücklichen und zufriedenen Manne zu machen, Grace. Schrieb sie dies nicht?« »Sie meinte, mich so beglückt und geehrt mit deiner Liebe zu machen!« war seiner Frau Antwort, als er sie in seinen Armen umfing.
»Höre mich, Geliebte!« sagte er. – »Nein. So!« – Und mit diesen Worten legte er sachte ihren Kopf an seine Brust. »Ich weiß, weshalb ich von dieser Stelle im Briefe nie etwas vernommen habe. Ich weiß, weshalb sich damals bei dir nie eine Spur davon in Wort oder Blick verraten hat. Ich weiß, weshalb Grace, obwohl meine echte Freundin, doch so schwer dahin zu bringen war, mein Weib zu werden. Ja, ich kenne den nicht auszumessenden Wert des Wesens, das ich in meinen Armen halte, und danke Gott für den köstlichen Schatz!«
Sie weinte, jedoch nicht aus Kummer, als er sie gegen sein Herz preßte. Nach einer Pause sah er auf das Kind herab, das ihnen zu Füßen saß und mit einem Körbchen voll Blumen spielte, und sagte zu ihm: »Sieh einmal, wie rot und golden die Sonne ist.«
»Alfred«, versetzte Grace und schaute bei diesen Worten rasch auf. »Die Sonne sinkt. Du hast nicht vergessen, was ich vernehmen soll, bevor sie untergegangen ist.«
»Du sollst die Wahrheit über Marions Schicksal hören, Liebe«, entgegnete er.
»Die ganze Wahrheit«, bat sie flehentlich. »Ohne weiteres Verbergen. So lautet das Versprechen, nicht wahr?«
»Freilich«, meinte ihr Gatte.
»Bevor die Sonne an Marions Geburtstag unterginge. Und du siehst, Alfred, sie ist nahe am Untergehen.«
Er schlang die Arme um sie, blickte ihr tief ins Auge und sagte: »Nicht ich soll dir diese Botschaft eröffnen, liebe Grace. Sie soll von andern Lippen kommen.«
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