Casanova wahr? – ich höre die Philologen entrüstet aufrücken von ihren Stühlen, haben sie doch in den letzten fünfzig Jahren Maschinengewehrfeuer nach seinen historischen Böcken geschossen und manche fette Lüge zur Strecke gebracht. Aber gemach nur, gemach! Zweifellos hat der gerissene Falschspieler, dieser berufsmäßige Lügenpeter und Radamonteur auch in seinen Memoiren die Karten etwas künstlich gemischt, il corrige la fortune, und gibt dem oft schwerfälligen Zufall geschwindere Beine. Er schmückt, garniert, pfeffert und würzt sein aphrodisisches Ragout mit allen Ingredienzien einer durch Entbehrung aufgepulverten Phantasie, vielleicht sogar, ohne es immer selbst zu wissen. Nein – einen Fanatiker der Einzelwahrheit, einen verläßlichen Historiker darf man in ihm nicht suchen, und je genauer die Wissenschaft unserm guten Casanova auf die Finger paßt, um so tiefer kommt er in die Kreide. Aber alle diese kleinen Schwindeleien, chronologischen Irrtümer, Mystifikationen und Windbeuteleien, diese willkürlichen und oft sehr begründeten Vergeßlichkeiten zählen nichts gegen die ungeheure und geradezu einzige Wahrhaftigkeit der Lebenstotalität in diesen Memoiren. Zweifellos hat Casanova von dem unbestreitbaren Recht des Künstlers, Zeitliches und Räumliches zusammenzuziehen und Geschehnisse sinnlicher zu machen, im einzelnen reichlich Gebrauch gemacht – aber was tut’s gegen die ehrliche, offene, augenklare Art, mit der er sein Leben und seine Zeit als Ganzes ansieht. Nicht er allein, sondern ein Jahrhundert steht plötzlich springlebendig auf der Bühne, wirbelt in dramatischen, von Kontrasten knisternden, elektrisch geladenen Episoden alle Schichten und Stände der Gesellschaft, der Nationen, alle Landschaften und Sphären kunterbunt durcheinander, ein Sittenbild und Unsittenbild ohnegleichen. Denn der scheinbare Defekt, daß er nicht profund in die Tiefe hinablotet, macht seine Schauart so dokumentarisch für das Kulturelle; Casanova zieht nicht aus der Fülle begrifflich die Wurzel und entsinnlicht dadurch die Summe der Erscheinungen, nein, er läßt alles locker, ungeordnet, in dem lebensechten Nebeneinander des Zufalls, ohne zu sortieren, zu kristallisieren. Alles liegt bei ihm auf der einen und gleichen Linie der Wichtigkeit, sobald es ihn nur amüsiert – das einzige Werturteil seiner Welt! – er kennt kein Groß und Klein, weder im Moralischen noch im Wirklichen, kein Gut und Böse. Darum wird er das Gespräch mit Friedrich dem Großen nicht um ein Haar ausführlicher oder ergriffener schildern als zehn Seiten vorher das Gespräch mit einer kleinen Hure, mit gleicher Sachlichkeit und Gründlichkeit das Bordell in Paris beschreiben wie den Winterpalast der Kaiserin Katharina. Ihm erscheint ebenso belangreich, wieviel hundert Dukaten er im Pharao gewonnen oder wie oft er in einer Nacht mit seiner Dubois oder Helene Sieger blieb, als die Konversation mit Herrn Voltaire der Literaturgeschichte zu bewahren – keinem Ding der Welt hängt er moralische oder ästhetische Gewichte an, und darum bleibt sie dermaßen herrlich im natürlichen Äquilibrium. Gerade, daß Casanovas Memoiren intellektuell nicht viel mehr sind als die Notizen eines klugen Durchschnittsreisenden durch die interessantesten Landschaften des Lebens, macht zwar kein Philosophikum aus ihnen, aber zugleich einen historischen Baedeker, einen Cortigiano des 18. Jahrhunderts und eine amüsante Chronique scandaleuse, einen vollkommenen Querschnitt durch den Alltag eines Weltalters. Durch niemand besser als durch Casanova kennt man das Tägliche und damit Kulturelle des 18. Jahrhunderts, seine Bälle, Theater, Kaffeehäuser, Feste, Gasthöfe, Spielsäle, Bordelle, Jagden, Klöster und Festungen. Man weiß durch ihn, wie man reiste, speiste, spielte, tanzte, wohnte, liebte, sich amüsierte, die Sitten, die Manieren, die Sprechart und Lebensweise. Und zu dieser unerhörten Fülle der Tatsachen, der praktisch sachlichen Realitäten tritt dann noch dieser ganze wirbelnde Tumult von Menschenfiguren, genug, um zwanzig Romane zu füllen und eine, nein zehn Generationen von Novellisten zu verproviantieren. Welche Fülle: Soldaten und Fürsten, Päpste und Könige, Strolche und Falschspieler, Kaufleute und Notare, Kastraten, Zutreiber, Sänger, Jungfrauen und Dirnen, Schriftsteller und Philosophen, Weise und Narren, die ergötzlichste und reichhaltigste Menschen-Menagerie, die jemals ein einzelner in den Pferch eines Buches zusammengetrieben. Hunderte von Novellen und Dramen danken seinem Werk ihre besten Gestalten sowie Situationen, und noch bleibt dieses Bergwerk unerschöpft: wie aus dem Forum Romanum zehn Generationen sich Steine holten für neuen Bau, werden noch einige literarische Geschlechter von diesem Erzverschwender Fundament und Figuren sich borgen.
Darum hilft es nichts, die Nase zu rümpfen über seine zweideutige Begabung oder moralisch zu tun wegen seiner gesetzwidrigen irdischen Konduite oder gar ihm seine philosophischen Läppereien beckmesserisch anzukreiden – es hilft nichts, es hilft nichts, dieser Giacomo Casanova gehört nun einmal zur Weltliteratur, ebenso wie der Galgenbruder Villon und allerhand andre dunkle Existenzen, und wird unzählige moralische Dichter und Richter überdauern. Wie im Leben, so hat er auch post festum alle gültigen Gesetze der Ästhetik ad absurdum geführt, den Katechismus der Moral frech unter den Tisch geschmissen, denn durch die Dauer seiner Wirkung ist bezeugt, daß man nicht sonderlich begabt, fleißig, wohlanständig, edel und erhaben sein müsse, um in die heiligen Hallen der literarischen Unsterblichkeit einzudringen. Casanova hat bewiesen, daß man den amüsantesten Roman der Welt schreiben kann, ohne Dichter, das vollendetste Zeitbild, ohne Historiker zu sein, denn jene letzte Instanz fragt nie nach dem Wege, sondern nach der Wirkung, nicht nach der Sittlichkeit, sondern der Kraft. Jedes vollkommene Gefühl vermag produktiv zu werden, Schamlosigkeit ebenso wie Scham, Charakterlosigkeit wie Charakter, Bosheit wie Güte, Moral wie Unmoral: entscheidend für Verewigung wird niemals die Seelenform, sondern die Fülle eines Menschen. Nur Intensität verewigt, und je stärker, vitaler, einheitlicher und einmaliger ein Mensch lebt, um so vollkommener bringt er sich zur Erscheinung. Denn die Unsterblichkeit weiß nichts von Sittlich und Unsittlich, von Gut und Böse; sie mißt nur Werke und Stärke, sie fordert Einheit und nicht Reinheit der Menschen, Beispiel und Gestalt. Moral ist ihr nichts, Intensität alles.
Inhaltsverzeichnis
Qu’ai-je été? Que suis-je? Je serais bien embarrassé de le dire.
Stendhal, Henri Brulard
Lügenlust und Wahrheitsfreude
Inhaltsverzeichnis
Am allerliebsten trüge ich eine Maske und änderte meinen Namen.
Brief
Wenige haben mehr gelogen und leidenschaftlicher die Welt mystifiziert als Stendhal, wenige besser und profunder die Wahrheit gesagt.
Seine Maskenspiele und Irreführungen zählen nach Regimentern. Noch ehe man ein Buch aufschlägt, springt die erste schon vom Umschlag oder aus der Vorrede entgegen, denn niemals bekennt sich der Autor Henri Beyle schlicht und simpel zu seinem wirklichen Namen. Bald legt er sich eigenmächtig ein Adelsprädikat zu, bald verkleidet er sich als »César Bombet« oder fügt seinen Initialen H. B. ein geheimnisvolles A. A. bei, wohinter kein Teufel das höchst bescheidene »ancien auditeur«, zu gut deutsch: ehemaliger Staatsauditor, vermuten dürfte; nur im Pseudonym, in der Falschmeldung fühlt er sich sicher. Einmal maskiert er sich als österreichischer Pensionist, ein andermal als »ancien officier de cavalerie«, am liebsten mit dem seinen Landsleuten rätselhaften Namen Stendhal (nach einem kleinen preußischen Städtchen, das unsterblich wurde durch seine Karnevalslaune). Setzt er ein Datum, so kann man schwören, es stimmt nicht, erzählt er in der Vorrede zur »Chartreuse de Parme«, dieses Buch sei 1830, und zwar zwölfhundert Meilen weit von Paris, geschrieben, so hindert diese Eulenspiegelei nicht, daß er diesen Roman in Wirklichkeit 1839, und zwar mitten in Paris verfaßte. Auch in den Tatsächlichkeiten stolpern die Widersprüche munter durcheinander. In einer Selbstbiographie berichtet er pompös, er sei bei Wagram, Aspern und Eylau auf dem Schlachtfeld gewesen; kein Wort davon ist wahr, denn unwiderleglich beweist das Tagebuch: er saß zu ebenderselben Stunde noch behaglich in Paris. Einigemal redete er von einem langen und wichtigen Gespräch mit Napoleon, aber, Verhängnis! im nächsten Band liest man bedeutend glaubhafter das Geständnis: »Napoleon unterhielt sich nicht mit Narren meiner Art.« So muß man bei Stendhal jede einzelne Behauptung mit vorsichtigen Fingern anfassen und am mißtrauischsten seine Briefe, die er, angeblich aus Furcht vor der Polizei, prinzipiell falsch datiert und jedesmal mit einem andern Pseudonym unterzeichnet. Promeniert er gemächlich in Rom, so gibt er als Absendeort gewiß Orvieto an, schreibt er angeblich aus Besancon, so war er wirklich an jenem Tage in Grenoble, manchmal ist die Jahreszahl, meist der Monat irreführend eingesetzt und fast regelmäßig die Unterschrift. Aber das war nicht, wie manche meinen, bloße Furcht vor dem schwarzen Kabinett der österreichischen Polizei, die ihn zu solchen Narrenspielen trieb, sondern eine eingeborene, urtümliche Lust am Bluffen, In-Verwunderung-Setzen, Sich-Verstellen, Sich-Verstecken. Stendhal wirbelt Mystifikationen und Pseudonyme wie ein funkelndes Florett meisterlich um die eigene Person, nur damit kein Neugieriger ihm zu nah herankomme, und niemals hat er aus dieser seiner leidenschaftlichen Neigung zum Düpieren und Intrigieren ein Hehl gemacht. Als ein Freund ihn einmal erbittert in einem Briefe beschuldigt, er habe infam gelogen, notiert er seelenruhig an den Rand des Anklageschreibens »vrai« – »richtig! stimmt!« Mit munterer Stirn und ironischem Vergnügen schwindelt er in seine Amtszeugnisse falsche Dienstjahre, loyale Gesinnungen bald gegen die Bourbons, bald gegen Napoleon, in all seinen Schriften, den gedruckten und privaten, wimmeln die Unstimmigkeiten wie Fischlaich im Sumpf. Und die letzte seiner Mystifikationen ist – Rekord aller Lügenhaftigkeit! – auf ausdrücklich testamentarischen Wunsch sogar in Marmor gemeißelt, in seinen Leichenstein auf dem Montmartrefriedhof. Dort steht noch heute die Irreführung zu lesen: Arrigo Beyle, Milanese, als letzte Ruhestatt dessen, der gutfranzösisch Henri Beyle getauft und (zu seinem Ärger!) in der bittern Provinzstadt Grenoble geboren war. Selbst dem Tod wollte er sich noch in Maske präsentieren: noch für ihn hat er sich romantisch kostümiert.
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