Denn gewiß ist dies Sinn und Sendung des letzten russischen Jahrhunderts gewesen, mit einer heiligen Unruhe und rücksichtslosem Leidensdrang alle moralischen Tiefen aufzuwühlen, alle sozialen Probleme anzugraben und zu entblößen bis an ihre Wurzeln, und unendlich beugt sich unsere Ehrfurcht vor der kollektiven Geistesleistung seiner genialen Künstler. Wenn wir manches tiefer durchfühlen, wenn wir vieles entschlossener erkennen, wenn die Probleme der Zeit und die ewigen des Menschen uns ansehen mit strengerem, tragischerem und unbarmherzigerem Blick als vordem, so danken wir dies Rußland und der russischen Literatur, ihr auch alle die schöpferische Unruhe zum Neuwahren über die alte Wahrheit hinaus. Alles russische Denken ist Gärung des Geistes, dehnende, aufsprengende Macht, aber nicht Klärung des Geistes wie jenes Spinozas, Montaignes und einiger Deutscher; es hilft herrlich mit an der seelischen Ausweitung der Welt, und kein Künstler der Neuzeit hat uns derart die Seele umgepflügt und aufgewühlt wie Tolstoi und Dostojewski. Aber eine Ordnung, eine neue, haben sie beide uns nicht schaffen helfen, und wo sie ihr eigenes Chaos, das seelisch abgründige, als Weltsinn abzureagieren suchen, da lösen wir uns von ihrer Lösung. Denn beide, Tolstoi und Dostojewski, retten sich aus dem eigenen Schrecken über den auf getanen, unüberbrückbaren Nihilismus, aus einer Urangst in eine religiöse Reaktion hinein, beide klammern sich, um nicht in ihren inneren Abgrund zu stürzen, sklavisch an das christliche Kreuz und verwölken in einer Stunde die russische Welt, da Nietzsches reinigender Blitz alle alten ängstlichen Himmel zerschlägt und dem europäischen Menschen den Glauben an seine Macht und Freiheit wie einen heiligen Hammer in die Hände legt.
Phantastisches Schauspiel: Tolstoi und Dostojewski, diese beiden mächtigsten Menschen ihres Vaterlandes, beide schrecken sie plötzlich auf, von apokalyptischen Schauern gepackt, aus ihrem Werke, und erheben beide dasselbe russische Kreuz, beide Christus anrufend und jeder einen andern, als Retter und Erlöser einer sinkenden Welt. Wie zwei rasende mittelalterliche Mönche stehen sie jeder auf seiner Kanzel, feindlich widereinander im Geist wie im Leben – Dostojewski, Erzreaktionär und Verteidiger der Autokratie, Krieg predigend und Terror, rasend im Machtrausch der übersteigerten Kraft, Knecht des Zaren, der ihn in den Kerker geworfen. Anbeter eines imperialistischen, welterobernden Heilands. Und ihm gegenüber Tolstoi, gleich fanatisch verhöhnend, was jener preist, ebenso mystisch anarchisch wie jener mystisch servil, den Zaren als Mörder, die Kirche, den Staat als Diebe anprangernd, den Krieg verfluchend, aber gleichfalls Christus auf der Lippe und das Evangelium in Händen – beide aber rückschrittlerisch die Welt in Demut und Dumpfheit zurücktreibend aus einem geheimnisvollen Terror der erschütterten Seele. Irgendein prophetisches Ahnen muß in den beiden gewesen sein, daß sie ihre apokalyptische Angst so schreiend über ihr Volk hinschütten, ein Ahnen von Weltuntergang und Jüngstem Gericht, ein seherisches Wissen, daß die russische Erde unter ihren Füßen trächtig war der ungeheuersten Erschütterung – denn was, wenn nicht dies, schafft Armut und Sendung des Dichters, daß er prophetisch das Feurige in der Zeit und den Donner im Gewölke vorausfühle, daß er gespannt und zerquält sei vom Kreißen der Umgeburt? Bußrufer alle beide, zornige und liebeswütige Propheten, stehen sie tragisch umleuchtet am Tor eines Weltuntergangs, noch einmal versuchend, das Ungeheure abzuwehren, das schon in den Lüften schwingt, alttestamentarisch gigantische Gestalten, wie sie unser Jahrhundert nicht mehr gesehen.
Aber nur zu ahnen vermögen sie das Werdende, nicht den Weltlauf zu wenden. Dostojewski verhöhnt die Revolution, und knapp hinter seinem Leichenzuge springt die Bombe auf, die den Zaren zerreißt. Tolstoi geißelt den Krieg und fordert die irdische Liebe: noch grünt nicht viermal die Erde über seinem Sarg, und der fürchterlichste Brudermord schändet die Welt. Seine Gestalten, die selbstgeschmähten seiner Kunst, überdauern die Zeit, aber seine Lehre zerbläst, der erste Anhauch und Wind. Den Zusammenbruch seines Gottesreiches, er hat ihn nicht mehr erlebt, aber wohl noch geahnt, denn im letzten Jahr seines Lebens, er sitzt ruhig im Kreise der Freunde, bringt ihm der Diener einen Brief, er öffnet ihn und liest:
»Nein, Leo Nikolajewitsch, ich kann nicht mit Ihnen darin übereinstimmen, daß die menschlichen Beziehungen allein durch die Liebe verbessert werden können. Das vermögen nur wohlerzogene, immer satte Leute zu sagen. Was wollen Sie aber jenen gegenüber vorbringen, die von Kindheit auf hungern und ihr ganzes Leben hindurch unter dem Joch von Tyrannen schmachten? Sie werden kämpfen und sich bemühen, die Sklaverei loszuwerden. Und ich sage es Ihnen am Vorabende Ihres Todes, Leo Nikolajewitsch, die Welt wird noch im Blute ersticken, und man wird mehr als einmal nicht nur die Herren, ohne Unterschied des Geschlechtes, sondern auch ihre Kinder erschlagen und in Stücke reißen, damit die Erde auch von diesen nichts Schlimmes mehr zu gewärtigen habe. Ich bedaure, daß Sie diese Zeit nicht mehr erleben werden, damit Sie selbst Augenzeuge Ihres Irrtums sein könnten. Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tod.«
Niemand weiß, wer diesen wetterleuchtenden Brief geschrieben. War es Trotzki, Lenin oder irgendeiner der namenlosen Revolutionäre, die in der Schlüsselburg vermoderten: wir werden es nie erfahren. Aber vielleicht hat in diesem Augenblick Tolstoi schon gewußt, daß seine Lehre Rauch und Vergeblichkeit wider die Wirklichkeit gewesen, daß die wirre und wilde Leidenschaft allezeit mächtiger sein wird unter den Menschen als die brüderliche Güte. Sein Antlitz wurde – so erzählen die Zeugen – ernst in diesem Augenblick. Er nahm das Blatt und ging damit nachdenklich in sein Zimmer, eine Schwinge der Ahnung kühl um das alternde Haupt.
Der Kampf um Verwirklichung
Inhaltsverzeichnis
Es ist leichter, zehn Bände Philosophie zu schreiben, als einen einzigen Grundsatz in der Praxis durchzuführen.
Tagebuch 1847
Im Evangelium, das Leo Tolstoi in jenen Jahren so beharrlich durchblättert, wird er nicht ohne Erschütterung das prophetische Wort gelesen haben: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, denn dies Schicksal erfüllt sich nun in seinem eigenen Leben. Niemals wirft ohne Sühne ein einziger Mensch, und am wenigsten ein gewaltiger, seine geistige Unruhe in die Welt: tausendfältig schwillt im Rückstoß der Aufruhr wider die eigene Brust. Heute, da längst die Diskussion ausgekühlt ist, vermögen wir gar nicht mehr zu ermessen, welche fanatische Erwartung im ersten Anruf die Botschaft Tolstois in der russischen und darüberhin in der ganzen Welt entzündete: ein Seelenaufruhr muß es gewesen sein, gewaltsame Erweckung eines ganzen Volksgewissens. Vergebens, daß die Regierung, von solch umstürzender Wirkung erschreckt, die polemischen Schriften Tolstois hastig verbietet, in Schreibmaschinenkopien schleichen sie von Hand zu Hand, sie werden eingeschmuggelt dank ausländischer Ausgaben; und je kühner Tolstoi die Elemente der bisherigen Ordnung, den Staat, den Zaren, die Kirche angreift, je glühender er eine bessere Weltordnung für die Mitmenschheit postuliert, um so strömender wendet sich das jeder Heilsbotschaft offene Herz der Menschheit ihm entgegen. Denn trotz Eisenbahn, Radio und Telegraph, trotz Mikroskop und aller technischen Magie hat unsere sittliche Welt sich genau dieselbe messianische Erwartung eines höheren moralischen Zustandes bewahrt wie in den Tagen Christi, Mohammeds oder Buddhas; unaustilgbar lebt und bebt in der ewig wunderwilligen Massenseele eine immer wieder erneute Sehnsucht nach einem Führer und Lehrer. Immer darum, wenn ein Mensch, ein einzelner, sich mit einer Verheißung an die Menschheit wendet, rührt er an den Nerv dieser Glaubenssehnsüchtigkeit, und eine unendliche aufgestaute Opferbereitschaft pocht jedem entgegen, der den Mut auf sich nimmt, aufzustehen und das verantwortlichste Wort zu wagen: »Ich weiß um die Wahrheit.«
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