Da kommt nun ein Einwand, der mir seit jeher viel zu schaffen machte, dem ich aber eine vertiefte Einsicht in das Traumproblem verdanke. Wenn nämlich der oben geschilderte Tatbestand angenommen werden sollte, wie erklärt es sich, daß niemand seine Träume versteht, daß niemand darauf achtet, ja sie meistens vergißt? Sehen wir von der Handvoll von Leuten ab, die etwas davon verstehen, so scheint da eine Kraft im Traume vergeudet zu sein, wie wir es sonst nie in der Ökonomie des Geistes finden. Freilich kommt uns da eine andere Erfahrung der Individualpsychologie zu Hilfe. Der Mensch weiß mehr, als er versteht. Ist da im Traume, wenn sein Verstehen schläft, das Wissen wach? Wenn dem so wäre, dann müßte sich Ähnliches im wachen Zustande auch nachweisen lassen. Und in der Tat, der Mensch versteht von seinem Ziele nichts und folgt ihm dennoch. Er versteht von seinem Lebensstil nichts und ist stets darin verhaftet. Und wenn sein Lebensstil ihn angesichts eines Problems in eine bestimmte Richtung weist, nach einem Trinkgelage, nach einem erfolgversprechenden Unternehmen, dann stellen sich immer Gedanken und Bilder ein, Sicherungen, wie ich sie genannt habe, um ihm diesen Weg schmackhaft zu machen, ohne daß sie immer mit dem Ziele sichtbar verbunden sein müßten. Wenn ein Mann mit seiner Frau recht unzufrieden ist, dann erscheint ihm oft eine andere viel begehrenswerter, ohne daß er sich den Zusammenhang, geschweige seine Anklage oder Rache dabei klarmachen würde. Erst im Zusammenhang mit seinem Lebensstil und dem vorliegenden Problem gesehen wird sein Wissen um die nächsten Dinge Verständnis. Außerdem haben wir aber bereits darauf hingewiesen, daß die Phantasie, somit auch der Traum, sich eines guten Teils des Common sense entschlagen muß. Es wäre demnach unbillig, den Traum nach seinem Common sense zu fragen, wie es viele Autoren getan haben, um zu dem Schluß zu kommen, der Traum sei unsinnig. Der Traum wird sich nur in den seltensten Fällen dem Common sense stark annähern, er wird sich nie mit ihm decken. Daraus aber folgt die wichtigste Funktion des Traumes, den Träumer auf einen Abweg vom Common sense zu führen , wie wir es auch von der Phantasie gezeigt haben. Im Traume begeht also der Träumer einen Selbstbetrug. Unserer Grundanschauung gemäß können wir hinzufügen: einen Selbstbetrug, der ihn angesichts eines Problems, für das sein Gemeinschaftsgefühl nicht ausreicht, auf seinen Lebensstil verweist, damit er das Problem diesem entsprechend löse. Indem er sich von der Wirklichkeit losreißt, die soziales Interesse verlangt, strömen ihm Bilder zu, die sein Lebensstil ihm eingibt.
Bleibt also nichts übrig vom Traum, wenn er vorüber ist? Ich glaube, diese wichtigste Frage gelöst zu haben. Es bleibt zurück, was immer zurückbleibt, wenn einer ins Phantasieren gerät, Gefühle, Emotionen und eine Stellungnahme. Daß diese alle in der Richtung des Lebensstils wirken, geht aus der Grundanschauung der Individualpsychologie von der Einheit der Persönlichkeit hervor. Es war einer meiner ersten Angriffe gegen die Freudsche Traumtheorie aus dem Jahre 1918, als ich auf Grund meiner Erfahrungen behauptete, daß der Traum vorwärts ziele, daß er den Träumer »scharf« mache dafür, ein Problem in seiner eigenen Weise zu lösen. Später konnte ich diese Anschauung ergänzen, indem ich feststellte, daß er dies nicht auf dem Wege des Common sense, des Gemeinschaftsgefühls tue, sondern »gleichnisweise«, metaphorisch, in vergleichenden Bildern, wie es etwa ein Dichter täte, wenn er Gefühle und Emotionen erwecken will. Damit sind wir aber wieder auf dem Boden des Wachzustandes und können hinzufügen, daß auch dichterisch völlig unzulängliche Personen sich des Vergleiches bedienen, wenn sie Eindruck machen wollen, sei es auch nur in Schimpfworten wie »Esel«, »altes Weib« usw., wie es auch der Lehrer tut, wenn er verzweifelt, einen Fall mit einfachen Worten erklären zu können.
Dabei geschieht zweierlei. Erstens sind Vergleiche besser geeignet, Gefühle wachzurufen als eine sachliche Aussprache. In der Dichtkunst, in der gehobenen Sprache feiert der Gebrauch von Metaphern geradezu Triumphe. Sobald wir uns aber aus dem Bereich der schönen Künste entfernen, bemerken wir die Gefahr, die im Gebrauch von Vergleichen liegt. »Sie hinken«, sagt das Volk mit Recht und meint damit, daß in ihrem Gebrauch die Gefahr einer Täuschung liegt. Wir kommen hier demnach zu dem gleichen Urteil wie oben, wenn wir den vergleichsweisen Gebrauch von Bildern im Traume ins Auge fassen. Sie dienen, abseits vom Wege der praktischen Vernunft, der Selbsttäuschung des Träumers und der Erweckung von Gefühlen, damit auch einer Stellungnahme im Sinne des Lebensstils. Es mag wohl immer dem Traume eine Stimmungslage ähnlich dem Zweifel vorausgehen, ein Problem, das noch näherer Untersuchung bedarf. Dann aber wählt das Ich gemäß seinem Lebensstil gerade jene Bilder aus tausend Möglichkeiten aus, die seinem Zwecke günstig sind, die Hinwegsetzung über die praktische Vernunft zugunsten des Lebensstils durchzuführen.
Wir haben damit festgestellt, daß die Phantasie des Träumers gleich wie in ihren anderen Gestaltungen auch im Traum den Linien des Lebensstils vorwärts und aufwärts folgt, auch wenn sie wie all unser Denken und Fühlen und Handeln Erinnerungsbilder benützt. Daß diese Erinnerungsbilder im Leben eines verwöhnten Kindes solche sind, die aus den Irrtümern der Verwöhnung stammen, aber doch ein Vorfühlen in die Zukunft ausdrücken, darf nicht zum irrtümlichen Schluß verleiten, als ob infantile Wünsche hier Befriedigung fänden, als ob eine Regression auf ein kindliches Stadium stattfände. Ferner müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, daß der Lebensstil die Bilder für seinen Zweck auswählt, so daß wir in dieser Auswahl den Lebensstil verstehen können. Die Angleichung des Traumbildes an die exogene Situation setzt uns in die Lage, die Bewegungslinie zu finden, die der Träumer kraft seines Lebensstils angesichts des Lösung verlangenden Problems einschlägt, um seinem Bewegungsgesetz gerecht zu werden. Die Schwäche seiner Position können wir darin erblicken, daß er Vergleiche und Gleichnisse zu Hilfe nimmt, die in fälschender Weise Gefühle und Emotionen wachrufen, ohne auf ihren Wert und Sinn geprüft werden zu können, die eine Verstärkung, Beschleunigung der stilgerechten Bewegung verursachen, wie etwa, wenn einer bei einem laufenden Motor mehr Gas gibt. Die Unverständlichkeit des Traumes, eine Unverständlichkeit, die sich im Wachen in vielen Fällen ebenso konstatieren läßt, wenn einer mit weit hergeholten Argumenten seinen Irrtum befestigen will, ist demnach Notwendigkeit und nicht Zufall.
Der Träumer verfügt noch, ganz wie im Wachen, über ein anderes Mittel, sich über die praktische Vernunft hinauszusetzen, nämlich, ein vorliegendes Problem in dessen Nebensächlichkeiten zu behandeln oder aus einem solchen die Hauptsache auszuschalten. Dieses Vorgehen zeigt sich jenem verwandt, läßt auch gelegentlich auf eine ausgebreitete Verwendung schließen, das ich als teilweise, unvollkommene Lösung eines Problems, als Zeichen eines Minderwertigkeitskomplexes in den letzten Heften der Zeitschrift für Individualpsychologie im Jahre 1932 beschrieben habe. Ich lehne abermals ab, Regeln zur Traumdeutung zu geben, da zu letzterer viel mehr künstlerische Eingebung als etwa Systematik des Beckmesser erforderlich ist. Der Traum bietet nichts, was nicht auch aus anderen Ausdrucksformen erschlossen werden kann. Nur dient er dem Untersucher dazu, zu erkennen, wie stark der alte Lebensstil noch wirksam ist, um den Untersuchten darauf aufmerksam zu machen, was zum Zwecke seiner Überzeugung sicherlich beiträgt. In der Deutung eines Traumes soll man so weit gehen, bis der Patient verstanden hat, daß er, wie Penelope, in der Nacht auftrennt, was er am Tage gelernt hat. Auch darf man jenen Lebensstil nicht vergessen, der in übertriebenem, scheinbarem Gehorsam, wie etwa der Hypnotisierte, seine Phantasie selbst in die Bahnen des Gehorsams gegenüber dem Arzte zwingt, ohne die daraus folgende Stellungnahme durchzuführen, auch eine Art des Trotzes, der schon in dieser heimlichen Weise in der Kindheit geübt wurde.
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