Wir wollen jenen nicht folgen, die der Individualpsychologie durch Totschweigen und Einschleichung den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Deshalb wollen wir hier an Freud erinnern, der zuerst den Versuch unternommen hat, eine wissenschaftliche Traumlehre auszugestalten. Dies ist ein bleibendes Verdienst, das niemand schmälern kann, ebensowenig wie gewisse Beobachtungen, die er als dem »Unbewußten« angehörig bezeichnet. Er scheint viel mehr gewußt zu haben, als er verstanden hat. Aber indem er sich zwang, alle seelischen Erscheinungen um die einzig herrschende Substanz, die er anerkennt, um die Sexuallibido zu gruppieren, mußte er fehlgehen, was noch dadurch verschlechtert wurde, daß er nur die bösen Triebe ins Auge faßte, die, wie ich gezeigt habe, aus dem Minderwertigkeitskomplex verwöhnter Kinder stammen, Kunstprodukte verfehlter Erziehung und verfehlter Eigenschöpfung des Kindes sind und niemals die seelische Struktur in ihrer wirklichen, evolutionären Ausgestaltung verstehen lassen können. Wenn daher, kurz gefaßt, dies die Anschauung über den Traum ist: »Wenn ein Mensch sich entschließen könnte, alle seine Träume, ohne Unterschied, ohne Rücksicht, mit Treue und Umständlichkeit und unter Hinzufügung eines Kommentars, der dasjenige umfaßte, was er etwa selbst nach Erinnerungen aus seinem Leben und seiner Lektüre an seinen Träumen erklären könnte, niederzuschreiben, so würde er der Menschheit ein großes Geschenk machen. Doch so, wie die Menschheit jetzt ist, wird das wohl keiner tun; im stillen und zur eigenen Beherzigung wäre es auch schon etwas wert« � sagt Freud? nein, Hebbel in seinen Erinnerungen �, so muß ich hinzufügen, daß es dabei in erster Linie darauf ankommt, ob das Schema, das er anwendet, einer wissenschaftlichen Kritik standhält. Dies war im psychoanalytischen Schema so wenig der Fall, daß Freud selbst, nach mannigfachen Änderungen seiner Trauminterpretation, nunmehr erklärt, daß er niemals behauptet habe, jeder Traum habe sexuellen Inhalt. Immerhin wieder ein Fortschritt.
Was aber Freud den »Zensor« nennt, ist nichts anderes als die größere Entfernung von der Wirklichkeit im Schlafe, ein beabsichtigtes Fernbleiben vom Gemeinschaftsgefühl, dessen Mangelhaftigkeit eine normale Lösung eines vorliegenden Problems verhindert, so daß das Individuum, wie in einem Schock anläßlich einer erwarteten Niederlage, einen anderen Weg zu einer leichteren Lösung sucht, zu dem ihm die Phantasie, im Banne des Lebensstils, abseits vom Common sense behilflich sein soll. Sucht man darin eine Wunscherfüllung, oder verzagend, einen Wunsch zu sterben, so findet man nicht mehr als einen Gemeinplatz, der nichts von der Struktur des Traumes aufklärt. Denn der ganze Lebensprozeß, wo immer betrachtet, kann als gesuchte Wunscherfüllung angesprochen werden.
Ich hatte bei meinen Untersuchungen über den Traum zwei starke Hilfen. Die eine bot mir Freud in seinen unannehmbaren Anschauungen. Ich lernte aus seinen Fehlern. Und obwohl ich selbst nie psychoanalysiert wurde, eine solche Einladung auch a limine abgewiesen hätte, weil sie die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Auffassung, die ohnehin bei den meisten nicht groß ist, bei der strikten Annahme seiner Lehre stört, bin ich doch so weit mit seiner Lehre vertraut, nicht nur um die Fehler erkennen zu können, sondern auch an dem Spiegelbild eines verwöhnten Kindes voraussagen zu können, was Freuds nächster Schritt sein wird. Ich habe deshalb allen meinen Schülern immer empfohlen, sich mit Freuds Lehre eingehend zu befassen. Freud und seine Schüler lieben es ungemein, in nicht zu verkennend prahlerischer Weise mich als Schüler Freuds zu bezeichnen, weil ich sehr viel mit ihm in einem psychologischen Zirkel gestritten hatte, ohne je einem seiner Schülervorträge beigewohnt zu haben. Als dieser Zirkel auf Freuds Anschauungen eingeschworen werden sollte, war ich der erste, der ihn verließ. Man wird mir das Zeugnis nicht versagen können, daß ich viel mehr als Freud die Grenzen zwischen Individualpsychologie und Psychoanalyse immer scharf gezogen habe, und daß ich mit meinen ehemaligen Diskussionen mit Freud nie geprahlt habe. Daß der Aufstieg der Individualpsychologie und ihr nicht zu verkennender Einfluß auf die Wandlung der Psychoanalyse dort so hart gefühlt wird, tut mir leid. Aber ich weiß, wie schwer es ist, der Weltanschauung verwöhnter Kinder zu genügen. Daß nach fortwährender Annäherung der Psychoanalyse � ohne daß sie ihr Grundprinzip ganz aufgegeben hätte � an die Individualpsychologie für befangene Gemüter Ähnlichkeiten sichtbar werden, eine offensichtliche Wirkung des unzerstörbaren Common sense, ist zum Schluß nicht einmal so verwunderlich. Manchem wird es dann so erscheinen, als ob ich die Entwicklung der Psychoanalyse in den letzten 25 Jahren widerrechtlich vorausgedacht hätte. Ich bin da der Gefangene, der sie nicht losläßt.
Die zweite, viel stärkere Hilfe erwuchs mir aus der festen, wissenschaftlich erhärteten und von vielen Seiten beleuchteten Einheit der Persönlichkeit. Die gleiche Zugehörigkeit zur Einheit muß auch dem Traume eigen sein. Auch abgesehen von der durch den Lebensstil geforderten regelmäßigen größeren Distanz zur beeinflussenden Wirklichkeit, die auch die Phantasie im Wachen charakterisiert, durfte im Traum keine seelische Form zur Stütze einer Theorie angenommen werden als solche Formen, die auch im wachen Leben vorhanden sind. Man kann zu dem Schluß kommen, daß der Schlaf und das Traumleben eine Variante des wachen Lebens, als auch, daß das wache Leben eine Variante des anderen ist. Das oberste Gesetz beider Lebensformen im Wachen wie im Schlafen ist: das Wertgefühl des Ich nicht sinken zu lassen. Oder, um es in die bekannte Terminologie der Individualpsychologie einzufügen: Das Streben nach Überlegenheit im Sinne des Endziels entreißt das Individuum dem Druck des Minderwertigkeitsgefühls. Wir wissen, in welche Richtung der Weg geht, mehr oder weniger abseits vom Gemeinschaftsgefühl, das heißt gegen das Gemeinschaftsgefühl, das heißt gegen den Common sense. Das Ich holt sich Stärkung aus der Traumphantasie, um zu einer Lösung eines vorliegenden Problems zu gelangen, für dessen Lösung es nicht genug Gemeinschaftsgefühl übrig hat. Es ist selbstverständlich, daß dabei immer die subjektive Schwere des vorliegenden Problems die Rolle einer Testprüfung auf Gemeinschaftsgefühl spielt, und so drückend sein kann, daß auch ... der Beste zu träumen beginnt.
Wir müssen demnach fürs erste feststellen, daß jeder Traumzustand einen exogenen Faktor hat. Das bedeutet wohl mehr und anderes als Freuds »Tagesrest«. Die Bedeutung liegt in dem Geprüftsein und Lösungsuchen. Es enthält das »Vorwärts zum Ziele«, das »Wohin« der Individualpsychologie im Gegensatz zu Freuds Regression und Erfüllung infantiler sexueller Wünsche, letztere wieder die Entblößung der fiktiven Welt verwöhnter Kinder, die alles allein haben wollen und nicht verstehen, wie ihnen ein Wunsch unerfüllt bleiben soll. Es weist auf das Aufwärtsströmen in der Evolution hin und zeigt, wie sich jeder einzelne diesen Weg vorstellt, den er gehen will. Es zeigt seine Meinung von seiner Art und von der Art, vom Sinn des Lebens.
Man sehe einen Augenblick vom Traumzustand ab. Da ist ein Mensch vor einer Prüfung, für die er sich in Anbetracht seines mangelnden Gemeinschaftsgefühls nicht reif fühlt. Er nimmt Zuflucht zu seiner Phantasie. Wer nimmt diese Zuflucht? Natürlich das Ich in seinem Lebensstil. Die Absicht ist, eine Lösung zu finden, wie sie dem Lebensstil paßt. Das heißt aber, mit geringer Ausnahme der für die Gemeinschaft wertvollen Träume, eine Lösung, mit der der Common sense nicht einverstanden ist, die gegen das Gemeinschaftsgefühl geht, aber das Individuum in seiner Not und seinem Zweifel erleichtert, noch mehr, es in seinem Lebensstil, in seinem Ichwert bestärkt. Der Schlaf, wie auch die Hypnose, wenn richtig ausgeführt, sind nur Erleichterungen für diesen Zweck, ebenso die gelungene Autosuggestion. Die Folgerung, die wir daraus ziehen müssen, ist, daß der Traum als gewollte Schöpfung des Lebensstils den Abstand vom Gemeinschaftsgefühl sucht und darstellt. Doch findet man bei größerem Gemeinschaftsgefühl und in bedrohlicheren Situationen gelegentlich eine Umkehr, den Sieg des Gemeinschaftsgefühls über den Versuch eines Abweichens davon. Wieder ein Fall, der der Individualpsychologie recht gibt, wenn sie behauptet, daß sich das Seelenleben niemals ganz in Formeln und Regeln einfangen läßt, was freilich die Hauptthese in diesem Falle unberührt läßt, nämlich, daß der Traum den Abstand vom Gemeinschaftsgefühl zeigt.
Читать дальше