Wenn wir unseren Ausblick vergrößern und die Frage aufwerfen: was ist mit jenen Lebewesen geschehen, die sich ein unrichtiges Ziel der Vollkommenheit gesetzt haben, deren aktive Anpassung nicht gelungen ist, weil sie den unrichtigen Weg eingeschlagen haben, die nicht den Weg der Förderung der Allgemeinheit gefunden haben? � da belehrt uns der Untergang von Spezies, Rassen, Stämmen, Familien und tausenden von einzelnen Personen, von denen nichts übriggeblieben ist, wie notwendig es für den einzelnen ist, einen halbwegs richtigen Weg zu finden zum Ziel einer Vollkommenheit. Es ist ja auch für unsere Tage und für den einzelnen unter uns selbstverständlich, daß das Ziel der Vollkommenheit die Richtung gibt, für die Entwicklung seiner ganzen Persönlichkeit, für alle Ausdrucksbewegungen, für sein Schauen, für sein Denken, seine Gefühle, seine Weltanschauung. Und ebenso klar und für jeden Individualpsychologen verständlich ist es, daß eine einigermaßen von der Wahrheit abweichende Richtung zum Schaden des Betreffenden ausschlagen muß, wenn nicht zu seinem Untergang. Da wäre es eigentlich ein glücklicher Fund, wenn wir Näheres wüßten über die Richtung, die wir einzuschlagen haben, da wir ja doch im Strom der Evolution eingebettet sind und ihm folgen müssen. Auch hier hat die Individualpsychologie große Arbeit geleistet, ebenso wie mit der Feststellung des allgemeinen Strebens nach Vollkommenheit. Sie hat aus tausendfältiger Erfahrung eine Anschauung gewonnen, die imstande ist, die Richtung zur idealen Vollkommenheit einigermaßen zu verstehen, und zwar in ihrer Feststellung der Normen des Gemeinschaftsgefühls .
Gemeinschaftsgefühl besagt vor allem ein Streben nach einer Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muß, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat. Es handelt sich niemals um eine gegenwärtige Gemeinschaft oder Gesellschaft, auch nicht um politische oder religiöse Formen, sondern das Ziel, das zur Vollkommenheit am besten geeignet ist, müßte ein Ziel sein, das die ideale Gemeinschaft der ganzen Menschheit bedeutet, die letzte Erfüllung der Evolution. Natürlich wird man fragen, woher ich das weiß. Sicher nicht aus der unmittelbaren Erfahrung, und ich muß schon zugeben, daß diejenigen recht haben, die in der Individualpsychologie ein Stück Metaphysik finden. Die einen loben es, die anderen tadeln. Es gibt leider viele Menschen, die eine irrige Anschauung von der Metaphysik haben, die alles, was sie nicht unmittelbar erfassen können, aus dem Leben der Menschheit ausgeschaltet wissen wollen. Damit würden wir die Entwicklungsmöglichkeiten verhindern, jeden neuen Gedanken. Jede neue Idee liegt jenseits der unmittelbaren Erfahrung. Unmittelbare Erfahrungen ergeben niemals etwas Neues, sondern erst die zusammenfassende Idee, die diese Tatsachen verbindet. Sie können es spekulativ nennen oder transzendental, es gibt keine Wissenschaft, die nicht in die Metaphysik münden müßte. Ich sehe keinen Grund, sich vor der Metaphysik zu fürchten, sie hat das Leben der Menschen und ihre Entwicklung im stärksten Grad beeinflußt. Wir sind nicht mit der absoluten Wahrheit gesegnet, deshalb sind wir gezwungen, uns Gedanken zu machen über unsere Zukunft, über das Resultat unserer Handlungen usw. Unsere Idee des Gemeinschaftsgefühles als der letzten Form der Menschheit, eines Zustandes, in dem wir uns alle Fragen des Lebens, alle Beziehungen zur Außenwelt gelöst vorstellen, ein richtendes Ideal, ein richtunggebendes Ziel, dieses Ziel der Vollendung muß in sich das Ziel einer idealen Gemeinschaft tragen, weil alles, was wir wertvoll finden im Leben, was besteht und bestehen bleibt, für ewig ein Produkt dieses Gemeinschaftsgefühles ist.
Ich habe im vorhergehenden die Tatsachen, die Wirkungen und die Mängel des gegenwärtigen Gemeinschaftsgefühls im Individuum und in der Masse beschrieben und war im Interesse der Menschenkenntnis, der Charakterologie bemüht, meine Erfahrungen darzulegen, wie man das Bewegungsgesetz des einzelnen und der Masse, sowie deren Verfehlungen klarzustellen vermag. In der Individualpsychologie sind alle unwiderleglichen Erfahrungen unter dem Gesichtspunkt dieser Wissenschaft gesehen und verstanden, deren wissenschaftliches System sich unter dem Drucke dieser Erfahrungen entwickelt hat. Die gewonnenen Resultate sind untereinander widerspruchslos und durch den Common sense gerechtfertigt. Was zur Erfüllung der Forderungen einer streng wissenschaftlichen Lehre beigebracht werden muß, ist in der Individualpsychologie erreicht: eine immense Zahl von unmittelbaren Erfahrungen, ein System, das diesen Erfahrungen Rechnung trägt und ihnen nicht widerspricht, und die trainierte Fähigkeit des Erratens im Einklang mit dem Common sense, eine Fähigkeit, die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem System diesem einzureihen imstande ist. Diese Fähigkeit ist um so notwendiger, als jeder Fall sich anders darstellt und zu stets neuen Anstrengungen des künstlerischen Erratens Anlaß gibt. Wenn ich nun darangehe, auch das Recht der Individualpsychologie, als Weltanschauung zu gelten, zu verfechten, indem ich sie dazu verwende, den Sinn des menschlichen Lebens verstehen zu lassen, so muß ich mich aller moralischen und religiösen, zwischen Tugend und Laster richtenden Anschauungen entschlagen, obwohl ich seit jeher überzeugt war, daß beide Strömungen, sowie auch politische Bewegungen stets darauf hinzielten, dem Sinn des Lebens gerecht zu werden, und unter dem Druck des Gemeinschaftsgefühls als einer absoluten Wahrheit gewachsen sind. Der Standpunkt der Individualpsychologie ihnen gegenüber ist durch ihre wissenschaftliche Erkenntnis, wohl auch durch ihren direkteren Versuch, das Gemeinschaftsgefühl als Erkenntnis stärker zu entwickeln, gegeben. Er lautet: Ich würde jede Strömung als gerechtfertigt ansehen, deren Richtung den unwiderleglichen Beweis liefert, daß sie vom Ziele des Wohles der gesamten Menschheit geleitet ist. Ich würde jede Strömung als verfehlt erachten, die diesem Standpunkt widerspricht oder durchflossen ist von der Kains-Formel: »Warum soll ich meinen Nächsten lieben?«
Gestützt auf die vorherigen Feststellungen darf ich, wie in einem kurzen Beweis, die Tatsache klarlegen, daß wir bei unserem Eintritt ins Leben nur vorfinden, was unsere Vorfahren als Beitrag zur Evolution, zur Höherentwicklung der gesamten Menschheit fertiggestellt haben. Schon diese eine Tatsache könnte uns darüber aufklären, wie das Leben weiterrollt, wie wir uns einem Zustand größerer Beiträge nähern, größerer Kooperationsfähigkeit, wo sich jeder einzelne mehr als bisher als ein Teil des Ganzen darstellt, ein Zustand, für den natürlich alle Formen unserer gesellschaftlichen Bewegung Versuche, Vorversuche sind, von denen nur diejenigen Bestand haben, die in der Richtung dieser idealen Gemeinschaft gelagert sind. Daß dieses Werk, vielfach von überragender menschlicher Kraft zeugend, sich auch in vieler Hinsicht als unvollkommen, ja auch gelegentlich als verfehlt erweist, deutet nur darauf hin, daß die »absolute Wahrheit«, auf dem Wege der Evolution vorwärts zu schreiten, dem menschlichen Vermögen unzugänglich ist, wenngleich wir ihr näherzukommen imstande sind, und daß es eine ganze Anzahl von Gemeinschaftsleistungen gibt, die nur für eine gewisse Zeit, für eine gewisse Situation vorhalten, um sich nach einiger Zeit sogar als schädlich zu erweisen. Was uns davor bewahren kann, ans Kreuz einer schädlichen Fiktion geschlagen zu sein, das Schema einer schädlichen Fiktion festzuhalten, ist der Leitstern des Wohles der Allgemeinheit, unter dessen Lenkung wir besser und ohne Rückschläge den Weg zu finden vermögen.
Das Wohl der Allgemeinheit, die Höherentwicklung der Menschheit basieren auf den ewig unvergänglichen Forderungen unserer Vorfahren. Deren Geist bleibt ewig lebendig. Er ist unsterblich, wie andere es in ihren Kindern sind. Auf beide gründet sich die Fortdauer des menschlichen Geschlechtes. Sein Wissen darum ist überflüssig. Die Tatsachen gelten. Die Frage des rechten Weges scheint mir gelöst, wenngleich wir oft im dunkeln tappen. Wir wollen nicht entscheiden, nur das eine können wir sagen: eine Bewegung des einzelnen und eine Bewegung der Massen kann für uns nur als wertvoll gelten, wenn sie Werte schafft für die Ewigkeit, für die Höherentwicklung der gesamten Menschheit. Man soll sich, um diese These zu entkräften, weder auf die eigene noch auf die fremde Dummheit berufen. Daß es sich nicht um den Besitz der Wahrheit, sondern um das Streben danach handelt, ist selbstverständlich.
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