»Wie sieht er dabei aus?« fragte Ossipon zerstreut.
»Engelhaft … Ich nahm eine Handvoll seiner Blätter vom Boden auf. Die Armseligkeit der Beweisgründe ist verblüffend. Er hat keine Logik. Er kann nicht zusammenhängend denken. Aber das macht nichts. Er hat seine Lebensgeschichte in drei Teile geteilt, betitelt »Glaube, Hoffnung, Mitleid«. Nun arbeitet er die Vorstellung einer Welt aus, die er sich wie ein ungeheures, sauberes Spital denkt, mit Gärten und Blumen, und in dem die Starken sich der Pflege der Schwachen zu widmen haben.«
Der Professor unterbrach sich.
»Verstehst du die Narrheit, Ossipon? Die Schwachen! Die Quelle alles Übels auf dieser Erde!« fuhr er ingrimmig fort. »Ich sagte ihm, daß ich mir eine Welt wie ein Schlachthaus erträume, wo die Schwachen der restlosen Vernichtung zugeführt würden.
Verstehst du, Ossipon? Die Quelle alles Übels! Sie sind unsere Zwingherren – die Schwachen, die Dummen, die Feigen, die Schwachherzigen und die Sklavenseelen. Sie haben Macht. Sie sind die Masse. Ihrer ist das Königtum der Erde. Vernichtung! Vernichtung! Das ist der einzige Weg zum Fortschritt. Das ist er! Folge mir, Ossipon. Erst muß die ganze Masse der Schwachen weg, dann die Menge der Halbstarken. Siehst du? Erst die Blinden, dann die Tauben und Stummen, dann die Lahmen und Bresthaften – und so weiter. Jeder Makel, jedes Laster, jedes Vorurteil und jede Bindung muß ihr Schicksal finden!«
»Und was bleibt?« fragte Ossipon gepreßt.
»Ich bleibe! Ich bin stark genug«, versicherte der schmächtige, kleine Professor, dessen große Ohren, dünn wie Membranen, weit von dem mageren Schädel abstehend, nun plötzlich tiefrote Färbung annahmen.
»Habe ich nicht genug gelitten an dieser Unterdrückung durch die Schwachen?« fuhr er angestrengt fort. Dann schlug er sich auf die Brusttasche: »Und doch bin ich die Stärke! – Aber die Zeit! Die Zeit! Gib mir Zeit! Oh, diese Masse, zu dumm, um Mitleid oder Furcht zu empfinden! Manchmal denke ich, daß sie tatsächlich alles zur Seite haben. Alles – sogar den Tod, meine eigene Waffe.«
»Komm und trinke ein Bier mit mir im Silenus«, sagte Ossipon nach einem Schweigen, das nur durch das schnelle Klappen von des Professors Pantoffeln unterbrochen worden war. Der Professor stimmte zu. Er war an diesem Tage gemütlich auf seine eigene Art. Er schlug Ossipon auf die Schulter.
»Bier! Soll’s so sein! Wir wollen eins trinken und lustig sein. Denn wir sind stark, und morgen sterben wir!«
Er zog sich die Schuhe an und sprach dabei in seiner kurzen abgerissenen Art weiter:
»Was ist mit dir los, Ossipon? Du siehst trübe aus und suchst sogar meine Gesellschaft. Ich höre, daß du fortwährend an Orten zu sehen bist, wo Männer über Schnapsgläsern Dummheiten schwatzen. Warum? Hast du deine Frauensammlung aufgegeben? Das sind die Schwachen, die die Starken füttern, wie?«
Er stampfte mit einem Fuß auf und zog den zweiten Schuh geschnürt an, einen schweren, oft geflickten Schuh, mit dicker Sohle, ungeschwärzt. Er lächelte grimmig in sich hinein.
»Sag mir, Ossipon, furchtbarer Mann, hat sich je eines deiner Opfer für dich getötet? Oder sind deine Siege in diesem Punkt unvollständig – denn Blut allein besiegelt die Größe. Blut. Tod. Sieh die Geschichte an!«
»Hol’ dich der Teufel«, sagte Ossipon, ohne den Kopf zu wenden.
»Warum? Laß das die Hoffnung der Schwachen sein, deren Gottesglaube die Hölle für die Starken erfunden hat. Ossipon, mein Gefühl für dich ist das freundschaftlicher Verachtung. Du könntest keine Fliege töten!«
Während sie aber auf dem Dach eines Omnibusses zum Abendschoppen fuhren, verlor der Professor seine gute Laune. Die Betrachtung der Massen, die sich über das Pflaster bewegten, erstickte seine Selbstsicherheit unter den drückenden Zweifeln, deren er immer nur Herr werden konnte, wenn er sich eine Zeitlang in dem Zimmer mit dem festverschlossenen Tellerschrank aufgehalten hatte.
Genosse Ossipon, der hinter ihm saß, sprach über seine Schulter: »Und so träumt also Michaelis von einer Welt wie ein schönes, barmherziges Spital?«
»Jawohl. Unendliche Barmherzigkeit für die Heilung der Schwachen«, stimmte der Professor höhnisch zu.
»Das ist dumm«, räumte Ossipon ein. »Schwäche ist nicht zu heilen. Aber vielleicht ist Michaelis schließlich nicht ganz im Irrtum. In zweihundert Jahren werden Ärzte die Welt regieren. Die Wissenschaft regiert jetzt schon. Im Schatten vielleicht – aber sie regiert. Und alle Wissenschaft muß schließlich in der Wissenschaft des Heilens gipfeln – nicht der Schwachen, sondern der Starken. Die Menschheit will leben – leben.«
»Menschheit«, bemerkte der Professor mit einem selbstbewußten Glitzern seiner stahlgefaßten Brillen. »Die Menschheit weiß nicht, was sie will.«
»Aber du weißt es«, grunzte Ossipon. »Eben vorher hast du nach Zeit – Zeit gejammert. Nun gut, die Ärzte werden dir Zeit verschaffen, wenn du etwas taugst. Du nennst dich selbst einen von den Starken – weil du in deiner Tasche Sprengstoff genug herumträgst, um dich selbst und, sagen wir, zwanzig andere Leute ins Jenseits zu befördern. Aber das Jenseits ist ein verdammtes Loch. Du brauchst Zeit. Du – wenn du einen Mann träfst, der dir unter Gewähr zehn Jahre Zeit verschaffen könnte, dann würdest du ihn deinen Meister nennen.«
»Mein Wahlspruch ist: Kein Gott! Kein Meister!« sagte der Professor gemessen, während er sich zum Aussteigen anschickte.
Ossipon folgte ihm. »Warte nur, bis du flach auf dem Rücken liegst, nach Ablauf deiner Zeit«, gab er zurück und sprang nach dem anderen vom Trittbrett ab. »Deines elenden, schäbigen, dreckigen Bißchens Zeit«, fuhr er fort, während er die Straße überquerte und auf den Bürgersteig hüpfte.
»Ossipon, ich glaube doch, daß du ein Schwindler bist«, sagte der Professor und stieß gewandt die Tür des Silenus auf. Als sie sich an einem kleinen Tisch eingerichtet hatten, entwickelte er diesen freundschaftlichen Gedanken weiter. »Du bist nicht einmal Arzt. Aber du bist spaßhaft. Deine Vorstellung einer Menschheit, die in ihrer Gesamtheit die Zunge herausstreckt und von Pol zu Pol auf das Geheiß einiger ernsthafter Witzbolde Pillen nimmt, ist ihres Propheten würdig! Prophet! Wozu über das nachdenken, was sein wird?« Er hob sein Glas. »Auf die Zerstörung von allem, was ist«, sagte er ruhig.
Er trank und fiel in sein merkwürdiges Schweigen zurück. Der Gedanke an eine Menschheit, so zahlreich wie der Sand am Meer, so unzerstörbar und schwer zu behandeln, bedrückte ihn. Der Krach der platzenden Bomben verlor sich in der Unzählbarkeit der Körner ohne Widerhall. Diese Verloc-Sache zum Beispiel – wer dachte noch daran?
Ossipon zog plötzlich, als folgte er einem geheimen Antrieb, ein kleines, zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche. Der Professor hob bei dem Rascheln den Kopf.
»Was ist’s mit der Zeitung? Steht etwas darin?« fragte er.
Ossipon starrte ihn an wie ein überraschter Schlafwandler.
»Nichts. Gar nichts. Das Ding ist zehn Tage alt. Ich habe es in meiner Tasche vergessen, glaube ich.«
Er warf das alte Ding aber nicht weg. Bevor er es wieder in die Tasche steckte, warf er einen verstohlenen Blick auf die letzten Zeilen eines Abschnitts. Die lauteten so: »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer über dieser Tat des Irrsinns oder der Verzweiflung walten zu sollen.«
Das waren die Schlußworte einer kurzen Nachricht mit dem Titel »Selbstmord einer Dame vom Bord eines Kanaldampfers aus.« Dem Genossen Ossipon waren die Schönheiten des Zeitungsstils wohl vertraut. »Ein undurchdringliches Geheimnis scheint für immer …« Er wußte jedes Wort auswendig. »Ein undurchdringliches Geheimnis …« Und der muskelstarke Anarchist ließ den Kopf auf die Brust hängen und verfiel in endlose Träumerei.
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