Der wahre Sinn des Bildes vor ihm ging Ossipon aber erst beim Anblick des Huts auf. Der schien ein ganz ungewöhnliches Ding, verhängnisvoll, ein Vorzeichen. Schwarz, mit der Krempe nach oben, lag er auf dem Boden vor dem Sofa, als wäre er dazu bestimmt, die Eintrittspfennige der Leute aufzunehmen, die kommen wollten, um Herrn Verloc in voller Ruhe sein häusliches Schläfchen machen zu sehen. Von dem Hut weg wanderten die Augen des muskelstarken Anarchisten zu dem verschobenen Tisch, ruhten eine Weile auf der zerbrochenen Schüssel, bekamen einen optischen Stoß, sozusagen, beim Anblick eines weißen Schimmers unter den halb geschlossenen Augenlidern des ruhenden Mannes hervor. Nun schien Herr Verloc nicht eigentlich zu schlafen, sondern nur mit gebeugtem Kopf dazuliegen und beharrlich auf seine linke Brust zu sehen. Und als Genosse Ossipon den Messergriff erblickt hatte, da wandte er sich von der Glastür ab und erbrach sich heftig.
Der Krach der Ladentür versetzte ihn in panischen Schrecken. Dieses Haus mit seinem stillen Inwohner konnte immer noch zur Falle werden – zu einer furchtbaren Falle. Genosse Ossipon hatte keinen klaren Begriff mehr davon, was mit ihm geschah. Er fuhr herum, rannte sich dabei die Kante des Ladentisches gegen die Hüfte, taumelte mit einem Schmerzensschrei und fühlte beim Klang der Ladenglocke, wie ihm die Arme unwiderstehlich an den Leib gepreßt wurden, während die kalten Lippen einer Frau hart an seinem Ohr die Worte formten:
»Schutzmann! Er hat mich gesehen.«
Er gab den Widerstand auf. Sie ließ ihn nicht frei. Ihre Hand hatte sich mit einem Gewirr von Fingern in seinen fleischigen Rücken verkrallt. Während die Schritte näher kamen, atmeten sie schnell, Brust an Brust, in harten, keuchenden Stößen, als stünden sie in tödlichem Kampf und nicht in Todesangst. Das dauerte lange.
Der diensthabende Schutzmann hatte tatsächlich etwas von Frau Verloc gesehen; da er aber aus der hellerleuchteten Straße am anderen Ende der Brett Street kam, war sie ihm nur als ein Schatten in der Dunkelheit erschienen. Und er war nicht einmal sicher, ob ein Schatten dagewesen war. Er hatte keinen Anlaß, sich zu beeilen. Als er vor den Laden kam, stellte er fest, daß er zu früher Stunde geschlossen worden war. Auch darin lag nichts Ungewöhnliches. Die Diensthabenden hatten bezüglich dieses Ladens besondere Weisung: was dort vorging, mußte, wenn es nicht grober Unfug war, unbehelligt bleiben. Alle Beobachtungen aber waren sofort zu melden. Nun war nichts zu beobachten; aus Pflichtgefühl aber und um sein Gewissen zu beruhigen, vielleicht auch wegen des zweifelhaften Schattens in der Dunkelheit, überquerte der Schutzmann die Straße und klinkte an der Tür. Das Schnappschloß, dessen Schlüssel, für immer außer Dienst, in des seligen Herrn Verlocs Brusttasche lag, hielt wie gewöhnlich stand. Während der gewissenhafte Beamte an der Türklinke rüttelte, fühlte Ossipon die kalten Lippen der Frau wieder an sein Ohr kriechen:
»Wenn er hereinkommt, töte mich – töte mich, Tom!«
Der Schutzmann ging weiter und ließ lediglich der Form halber das Licht seiner Blendlaterne über das Ladenfenster wegblitzen. Der Mann und die Frau innen standen noch einen Augenblick lang reglos, keuchend, Brust an Brust; dann lösten sich ihre Finger, ihr Arm sank langsam herab. Ossipon lehnte sich gegen den Ladentisch. Der muskelstarke Anarchist brauchte dringend einen Halt. Dies war grauenhaft. Er war fast zu erschüttert, um sprechen zu können. Schließlich brachte er aber doch ein paar klägliche Worte heraus, die zumindest zeigten, daß er seine Lage erfaßt hatte.
»Nur ein paar Minuten später, und du hättest mich geradeswegs an den Burschen mit seiner verdammten Blendlaterne hinrumpeln lassen.«
Herrn Verlocs Witwe stand reglos mitten im Laden und sagte eindringlich:
»Geh hinein und dreh’ das Licht ab, Tom, es macht mich noch verrückt.«
Sie sah verschwommen seine heftig abwehrende Gebärde. Nichts in der Welt hätte Ossipon dazu bringen können, das Wohnzimmer zu betreten. Er war nicht abergläubisch, aber es war zu viel Blut auf dem Fußboden; ein großer Teich davon, rings um den Hut. Er war der Ansicht, daß er dem Leichnam da drinnen schon viel näher gekommen war, als für seinen Seelenfrieden – und für seinen Hals vielleicht gut sein mochte.
»Dann also den Gasometer! Hier! Sieh! In dieser Ecke!«
Die wuchtige Gestalt des Genossen Ossipon durchquerte schnell und schattenhaft den Laden und verschwand gehorsam in einer Ecke; doch fehlte diesem Gehorsam die Anmut. Er hantierte gereizt herum, und plötzlich ging das Licht hinter der Glastür aus, beim Klang eines gemurmelten Fluchs und eines keuchenden, halb irren Frauenseufzers. Nacht, der unvermeidliche Lohn für jede getreue menschliche Mühe auf dieser Erde, Nacht hatte sich auf Herrn Verloc gesenkt, den erprobten Revolutionär – einen von der alten Garde – den demütigen Wächter der Gesellschaft; den unschätzbaren Geheimagenten Ä aus des Barons Stott-Wartenheim Depeschen; den Diener von Gesetz und Ordnung, treu, verläßlich, genau, bewundernswert, mit vielleicht nur einer einzigen liebenswürdigen Schwäche: dem Aberglauben, um seiner selbst willen geliebt zu sein.
Ossipon tastete sich durch die stickige Luft, die nun so schwarz wie Tinte war, zum Ladentisch zurück. Die Stimme der Frau Verloc, die mitten im Laden stand, klang durch die Dunkelheit verzweifelt hinter ihm drein.
»Ich will nicht gehängt werden, Tom – ich will nicht –«
Sie brach ab. Ossipon warnte vom Ladentisch her: »Schrei nicht so«, und schien dann angestrengt nachzudenken. »Hast du das ganz allein getan?« fragte er mit hohler Stimme, doch mit dem Anschein einer überlegenen Ruhe, die Frau Verlocs Herz mit dankbarer Zuversicht in seinen kraftvollen Schutz erfüllte.
»Ja«, flüsterte sie unsichtbar.
»Ich hätte es nicht für möglich gehalten,« murmelte er, »auch sonst niemand.« Sie hörte, wie er sich bewegte und wie das Schloß der Wohnzimmertür einschnappte. Genosse Ossipon hatte den Schlüssel zu Herrn Verlocs Ruhestätte umgedreht, und das nicht aus Ehrfurcht vor der Ewigkeit oder aus sonst einer gefühlvollen Betrachtung, sondern aus einer rein verstandesmäßigen Erwägung – weil er durchaus nicht sicher war, ob sich nicht doch noch jemand im Hause versteckt hielt. Er glaubte der Frau nicht, oder vielmehr er fühlte sich unfähig, zu beurteilen, was noch in dieser Fabelwelt wahr, möglich, oder auch nur wahrscheinlich sein konnte. In dieser außerordentlichen Geschichte, die mit Polizei, Inspektoren und Gesandtschaften begonnen hatte und weiß Gott wo enden würde – vielleicht auf dem Schafott für irgend jemand – hatte ihm der Schrecken alle Fähigkeit zum Glauben oder Nichtglauben genommen. Er war entsetzt bei dem Gedanken, daß er außerstande sein würde, zu beweisen, wie er seit sieben Uhr seine Zeit zugebracht hatte; denn er hatte ja in der Brett Street herumgelungert. Er war entsetzt vor diesem wilden Weib, das ihn hier hereingelockt hatte und ihm wahrscheinlich die Mitschuld aufbürden würde, wenn er sich nicht in acht nahm. Er war entsetzt über die Schnelligkeit, mit der er in solche Gefahr verwickelt – verstrickt worden war. Es war knapp zwanzig Minuten her, seit er sie getroffen hatte – nicht mehr.
Frau Verlocs Stimme klang gepreßt, voll flehender Bitte:
»Gib’s nicht zu, daß sie mich hängen! Führ’ mich ins Ausland. Ich werde für dich arbeiten, ich werde, für dich schuften. Ich werde dich liebhaben. Ich habe niemand in der Welt … Wer sollte sich um mich kümmern, wenn nicht du!« Sie unterbrach sich einen Augenblick; dann kam ihr aus der Tiefe der Einsamkeit, die ein von einem Messergriff tröpfelnder Blutfaden rings um sie geschaffen hatte, eine schauerliche Eingebung – ihr, der ehrbaren Haustochter der Belgravia-Pension, der treuen, anständigen Gattin des Herrn Verloc. »Ich werde nicht verlangen, daß du mich heiratest«, hauchte sie, von Scham gequält.
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