Er hob die Augen nicht, bevor er seine Gattin die Stiege herunterkommen hörte. Sie war, wie er es vermutet hatte, zum Ausgehen gekleidet.
Frau Verloc war ein freies Weib. Sie hatte das Schlafzimmerfenster aufgestoßen, um entweder »Hilfe, Mörder« zu schreien oder sich selbst hinauszuwerfen. Denn sie wußte nicht genau, welchen Gebrauch sie von ihrer Freiheit machen sollte. Ihre Persönlichkeit schien in zwei Stücke gerissen, deren geistige Tätigkeit nicht völlig zusammenzupassen schien. Die Gasse, die schweigend und öde vor ihr lag, stieß sie ab, weil sie ihr auf Seiten des Mannes zu stehen schien, der seiner Straflosigkeit so sicher war. Sie fürchtete sich, zu schreien, weil vielleicht niemand kommen würde. Ganz sicher würde niemand kommen. Ihr Selbsterhaltungstrieb schreckte vor dem tiefen Sturz in den engen, schlammigen Graben zurück. Frau Verloc schloß das Fenster und zog sich an, um auf andere Weise auf die Straße hinunter zu gelangen. Sie war ein freies Weib. Sie hatte sich vollständig angekleidet und auch einen schwarzen Schleier vors Gesicht gebunden. Als sie im trüben Licht des Wohnzimmers vor ihm stand, bemerkte Herr Verloc, daß sie sogar ihr kleines Täschchen am Handgelenk hängen hatte … Natürlich wollte sie nun eiligst zu ihrer Mutter.
Seinem ermüdeten Hirn drängte sich der Gedanke auf, daß Frauen doch im Grunde recht unbequeme Geschöpfe waren. Doch er war zu großmütig, um diesem Gedanken länger als einen Augenblick nachzuhängen. Dieser Mann, grausam in seiner Eitelkeit getroffen, blieb doch großmütig in seiner Haltung und erlaubte sich weder die Genugtuung eines bitteren Lächelns, noch die einer verächtlichen Bewegung. Mit wahrer Seelengröße blickte er nur nach der Holzuhr an der Wand und sagte mit vollendeter, wenn auch etwas gemachter Ruhe:
»Fünfundzwanzig Minuten nach acht, Winnie. Es hat keinen Sinn, so spät noch dahin zu gehen. Du würdest heut abend keinesfalls zurückkommen können.«
Vor seiner ausgestreckten Hand war Frau Verloc kurz stehengeblieben. Er fügte nachdrücklich hinzu: »Deine Mutter wird zu Bett gegangen sein, bevor du hinkommst. Dies ist eine Neuigkeit, die gut warten kann.«
Nichts lag Frau Verloc ferner, als zu ihrer Mutter zu gehen. Sie wich vor dem bloßen Gedanken daran zurück, fühlte einen Stuhl hinter sich, folgte der Anregung und setzte sich. Ihre Absicht war gewesen, ganz einfach für immer aus der Türe zu gehen. Und so richtig dieses Gefühl war, so nahm es, ihrer Herkunft und ihrem Stande entsprechend, auch schlichte Form an. »Ich wollte lieber alle Tage meines Lebens durch die Straßen wandern«, dachte sie. Doch dieses Geschöpf, dessen Innenleben einer Erschütterung ausgesetzt worden war, mit der verglichen das stärkste Erdbeben der Geschichte als lächerliche Nebensache erscheinen mußte, dieses Geschöpf war durch die geringfügigsten Umstände, durch zufällige Berührungen zu lenken. Sie setzte sich. Mit ihrem Hut und Schleier sah sie wie ein Besuch aus, als hätte sie auf einen Augenblick zu Herrn Verloc hereingesehen. Ihre augenscheinliche Gefügigkeit ermutigte ihn, während der Umstand ihn ärgerte, daß sie sich so stumm und nur vorübergehend fügte.
»Laß dir sagen, Winnie,« begann er etwas von oben herab, »daß dein Platz heute abend hier ist. Zum Teufel! Du hast mir die verdammte Polizei auf die Fersen gesetzt. Ich tadle dich nicht – aber es bleibt doch dein Werk! Du solltest lieber den verwünschten Hut wegtun. Ich kann dich nicht ausgehen lassen, liebes Mädel«, fügte er weicher hinzu.
Frau Verloc hakte an dieser Erklärung mit krankhafter Hartnäckigkeit ein. Der Mann, der Stevie gerade unter ihren Augen weggeführt hatte, um ihn an einem Ort umzubringen, dessen Name ihr augenblicklich nicht gegenwärtig war, – dieser Mann wollte ihr nicht erlauben, auszugehen. Natürlich nicht. Nun, da er Stevie ermordet hatte, würde er sie nie mehr gehen lassen. Er würde sie, für nichts und wieder nichts, festhalten wollen. Und bei dieser bezeichnenden Folgerung, die alle Kraft ungesunder Logik aufwies, begannen Frau Verlocs zerstreute Gedanken zusammenhängend zu arbeiten. Sie konnte an ihm vorbeischlüpfen, die Türe aufreißen, hinausrennen. Aber er würde hinter ihr dreinstürzen, sie um den Leib fassen und in den Laden zurückzerren. Sie konnte kratzen, stoßen, beißen – und auch stechen; zum Stechen aber brauchte sie ein Messer. Frau Verloc saß still unter ihrem schwarzen Schleier, in ihrem eigenen Hause, wie ein maskierter, geheimnisvoller Besucher mit unergründlichen Absichten.
Herrn Verlocs Großmut hatte menschliche Grenzen. Die waren nun erreicht.
»Kannst du nichts sagen? Du hast eine eigene Art, einen Mann zu ärgern. O ja! Ich kenne deinen Taubstummentrick. Du hast ihn mir schon früher vorgemacht. Aber eben jetzt hilft er dir nichts! Und zuerst einmal nimm das verfluchte Ding ab. Man weiß ja nicht, ob man zu einer Puppe spricht oder zu einer lebenden Frau.«
Er trat vor, riß mit ausgestreckter Hand den Schleier herunter und enthüllte dabei ein unbewegtes Gesicht, an dem seine nervöse Gereiztheit zerbrach wie eine Glasflasche, die gegen einen Fels geschleudert wird. »So ist’s besser«, sagte er, um seine augenblickliche Verlegenheit zu verbergen, und zog sich an seinen alten Platz am Kamin zurück. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß seine Frau ihn aufgeben konnte. Nur schämte er sich ein wenig, denn er hatte sie lieb und war edelmütig. Was konnte er tun? Alles war schon gesagt. Er brach heftig los:
»Beim Himmel! Weißt du, daß ich in allen Winkeln gesucht habe? Ich habe mich fast preisgegeben, um jemand für das verfluchte Geschäft zu finden. Und ich sage dir nochmals, ich konnte niemand finden, der närrisch oder hungrig genug gewesen wäre. Wofür hältst du mich eigentlich – für einen Mörder, oder für was? Der Junge ist weg. Aber glaubst du, ich habe es gewollt, daß er in die Luft flog? Er ist weg. Seine Nöte sind ‘rum. Unsere beginnen erst, sage ich dir. Gerade, weil er sich in die Luft gesprengt hat. Ich tadle dich nicht. Aber versuche doch zu verstehen, daß es ein reiner Unfall war; genau so ein Unfall, als hätte ihn ein Omnibus überfahren, während er die Straße überquerte.«
Sein Edelmut war nicht grenzenlos, eben weil er ein Mensch war – und nicht ein Ungeheuer, wofür ihn Frau Verloc hielt. Er hielt inne, und ein Schnauben, das seinen Schnurrbart hob und die weißschimmernden Zähne bloßlegte, gab ihm den Ausdruck eines nachdenklichen Tieres, eines nicht sehr gefährlichen, langsamen Tieres mit glattem Kopf, brummiger als ein Seehund und mit heiserer Stimme.
»Und da wir schon dabei sind: es ist genau so gut dein Werk, wie das meine. Das ist so. Du kannst mich anstarren, so lange du willst. Ich weiß ganz gut, wie weit du es darin treiben kannst. Schlag mich tot, wenn ich je daran gedacht habe, den Jungen dazu zu verwenden. Du hast ihn mir immer wieder in den Weg geschoben, als ich halb verrückt war vor lauter Nachdenken, wie ich uns allen die Teufelei vom Halse schaffen könnte. Warum zum Henker hast du das getan? Man konnte es fast für Absicht halten. Und ich will verdammt sein, wenn ich es nicht dafür hielt. Man kann ja nie wissen, wieviel du von dem, was vorgeht, insgeheim begriffen hast, bei. deiner verfluchten, kaltschnäuzigen Art, nirgendwohin zu sehen und nichts zu sagen.«
Seine heisere Stimme schwieg eine Weile. Frau Verloc entgegnete nichts. Angesichts dieses Schweigens schämte er sich seiner Worte. Doch wie es friedlichen Männern in häuslichen Zwisten oft geschieht: da er sich schämte, ging er noch einen Schritt weiter.
»Du hast mitunter eine verteufelte Art, den Mund zu halten,« fuhr er fort, ohne die Stimme zu heben, »genug, um einen verrückt zu machen. Ein Glück für dich, daß ich nicht so leicht über deine taubstummen Künste aus dem Häuschen gerate, wie vielleicht manche andere. Ich habe dich gern. Aber treib du es nicht zu weit! Dies ist nicht die Zeit dazu. Wir sollten nachdenken, was wir nun am besten zu tun haben. Ich kann dich heute abend nicht mehr ausgehen lassen, damit du mit irgendeiner verrückten Geschichte über mich zu deiner Mutter rennst. Ich will es nicht haben. Gib dich keinem Irrtum darüber hin: wenn du sagst, daß ich den Jungen umgebracht habe, dann hast du ihn mindestens ebensogut umgebracht.«
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