Der Gewaltige am Kamin hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört.
»Ist recht. Fassen Sie sich so kurz wie möglich.«
Der Kommissar deutete durch eine Gebärde aufrichtiger Ergebenheit an, daß er bestrebt sei, sich so kurz wie möglich zu fassen.
»Die Ausführung der Sache zeigt so viel Widersinn und Schwäche, daß ich die starke Hoffnung habe, ihr auf den Grund kommen und etwas ganz anderes dahinter finden zu können, als einen Ausbruch von persönlichem Fanatismus. Zweifellos handelt es sich um einen vorbereiteten Plan. Der wahre Täter scheint an der Hand bis an den Tatort geführt und dann eilig sich selbst überlassen worden zu sein. Es wird angenommen, daß er eigens zur Durchführung dieses Anschlags von weit weg hergeholt wurde. Zugleich aber drängt sich der Schluß auf, daß er nicht genügend englisch verstand, um sich durchfragen zu können, wenn man nicht die etwas phantastische Möglichkeit gelten lassen will, daß er taubstumm war. Nun frage ich mich nur – – Aber das ist müßig. Er ist durch einen Unfall umgekommen, ganz offenbar. Kein außergewöhnlicher Unfall. Aber ein außergewöhnlicher kleiner Umstand, bleibt: die Adresse in seinem Überrock, die gleichfalls durch blanken Zufall entdeckt wurde. Das ist ein unglaublicher, kleiner Umstand, so unglaublich, daß seine Aufklärung notwendig auch den Schlüssel zu der ganzen Sache darstellen muß. Anstatt nun Heat das Weitere in diesem Falle zu überlassen, habe ich vielmehr die Absicht, diesen Schlüssel persönlich zu suchen – alleine, meine ich – und dort, wo er liegen muß, das ist in einem gewissen Laden in der Brett Street und bei einem gewissen Geheimagenten, der seinerzeit einmal der vertraute Spion des seligen Barons Stott-Wartenheim war, des Gesandten einer Großmacht beim Hof von St. James.«
Der Kommissar machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Die Burschen sind tatsächlich eine Pest.« Um seinen schrägen Blick zu dem Gesicht des Sprechers erheben zu können, hatte der Gewaltige am Kamin ruckweise den Kopf hinübergesenkt, was seinem Aussehen eine unerhörte Erhabenheit verlieh.
»Warum lassen Sie Heat nicht machen?«
»Weil er ein alter Beamter ist. Und die haben ihre eigene Moral. Meine Art, die Untersuchung zu führen, würde ihm völlig pflichtwidrig erscheinen, denn für ihn ist es ein klares Gebot der Pflicht, die Schuld auf so viele bekannte Anarchisten zu wälzen, als es ihm auf Grund der schwachen Anzeichen, die er an Ort und Stelle gefunden hat, nur möglich ist; während ich, so würde er sagen, mich bemühe, ihre Unschuld zu erweisen. Ich versuche, mich so deutlich wie möglich auszudrücken, wenn ich Ihnen nun diese verzwickte Angelegenheit ohne Einzelheiten auseinandersetze.«
»Würde er das, hä?« klang es aus luftiger Höhe von Sir Ethelreds stolzen Lippen.
»Ich fürchte, ja, und zwar mit einer Entrüstung und einem Abscheu, von dem weder Sie noch ich einen Begriff haben. Er ist ein ausgezeichneter Beamter. Wir dürfen seine Pflichttreue nicht unnütz auf die Probe stellen. Das ist immer ein Fehler. Überdies möchte ich freie Hand haben – freiere Hand, als es vielleicht angezeigt wäre, dem Hauptinspektor Heat zu gewähren. Ich habe nicht die leiseste Absicht, diesen Mann Verloc zu schonen. Er wird, stelle ich mir vor, höchlichst bestürzt sein, wenn er sieht, daß seine Beteiligung an dieser Sache, welcher Art sie auch immer sein mag, so schnell aufgedeckt wurde. Es wird wohl nicht allzu schwer halten, ihn einzuschüchtern. Unser wahres Ziel aber liegt irgendwo hinter ihm. Ich erbitte Ihre Erlaubnis, ihm die Gewähr persönlicher Sicherheit zusagen zu dürfen, die ich für angemessen halte.«
»Gewiß«, sagte der Gewaltige am Kamin. »Bringen Sie heraus, soviel Sie können; bringen Sie es auf Ihre Weise heraus.«
»Ich muß ohne Zeitverlust darangehen, heute abend noch«, sagte der Kommissar.
Sir Ethelred schob eine Hand unter den Rockschoß, warf den Kopf zurück und sah den Kommissar fest an.
»Wir werden heute eine lange Nachtsitzung haben«, sagte er. »Kommen Sie mit Ihren Entdeckungen ins Parlament, wenn wir noch dort sind. Ich werde Toodles sagen, daß er nach Ihnen ausschauen soll. Er wird Sie in mein Zimmer führen.«
Die zahlreiche Familie und der Bekanntenkreis des jugendlichen Privatsekretärs erhofften für ihn ein erhabenes Los. Unterdessen wurde er von der Gesellschaft, die er in seinen Mußestunden zu schmücken liebte, mit dem erwähnten Spitznamen belegt. Sir Ethelred, der ihn täglich von seiner Frau und seinen Töchtern (meistens beim Frühstück) aussprechen hörte, hatte ihn ernsthaft übernommen und damit geadelt.
Der Kommissar war freudig überrascht.
»Gewiß will ich meine Entdeckungen ins Parlament bringen, für den Fall, daß Sie Zeit finden sollten –«
»Ich werde keine Zeit haben«, unterbrach der Gewaltige, »aber ich werde Sie empfangen. Auch jetzt habe ich keine Zeit – – – Und Sie wollen selbst gehen?«
»Jawohl, Sir Ethelred, ich glaube, daß es das beste ist.«
Der Gewaltige hatte den Kopf so weit zurückgelehnt, daß er, um den Kommissar noch sehen zu können, die Augen fast schließen mußte.
»Hm, so. Und wie denken Sie wollen Sie eine Verkleidung anlegen?«
»Eine Verkleidung kaum. Natürlich werde ich mich umziehen.«
»Natürlich«, wiederholte der große Mann etwas zerstreut. Er wandte langsam sein mächtiges Haupt und warf über die Schulter weg einen majestätischen Blick auf die Marmoruhr mit dem leisen, schnellen Ticken. Die Messingzeiger hatten die Gelegenheit benützt, hinter seinem Rücken den Abstand von nicht weniger als fünfundzwanzig Minuten zu durcheilen.
Der Kommissar, der sie nicht sehen konnte, wurde indessen ein wenig unruhig. Doch der große Mann kehrte ihm ein unverändert ruhiges Gesicht zu.
»Ganz recht«, sagte er und hielt inne, wie in betonter Geringschätzung der amtlichen Uhr. »Aber was hat Sie zuerst in diese Richtung gedrängt?«
»Ich bin immer der Meinung gewesen …« begann der Kommissar.
»O ja! Meinung! Natürlich! Aber der unmittelbare Beweggrund?«
»Was soll ich sagen, Sir Ethelred? Das Widerstreben eines neuen Mannes gegen alte Methoden. Der Wunsch, etwas aus erster Hand zu erfahren. Ein wenig Ungeduld. Es ist mein alter Beruf im neuen Gewand. Es hat mich ein wenig gekitzelt.«
»Ich hoffe, Sie werden es da drüben vorwärtsbringen«, sagte der große Mann gütig und streckte seine Hand aus, die zwar weich, doch breit und kraftvoll war, wie die eines hochgekommenen Farmers. Der Kommissar schüttelte sie und zog sich zurück.
Im Vorzimmer harrte Toodles wartend auf der Tischkante und trat ihm nun ohne die sonstige Jungenart entgegen.
»Nun? Zufrieden?« fragte er mit wichtiger Miene.
»Ganz und gar. Sie haben sich meine unauslöschliche Dankbarkeit gesichert«, gab der Kommissar zurück, dessen langes Gesicht hölzern wirkte neben dem gemachten Ernst des andern, das alle Augenblick bereit schien, in Lachen auszubrechen.
»Das ist recht. Aber im Ernst, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ihn die Angriffe auf seinen Gesetzesvorschlag über die Verstaatlichung der Fischereien aufregen! Sie nennen es den ersten Schritt zur Sozialisierung. Natürlich ist es eine revolutionäre Maßnahme. Aber die Burschen haben keine Lebensart; die persönlichen Angriffe –«
»Ich lese die Zeitungen«, bemerkte der Kommissar.
»Ekelhaft, was? Und Sie machen sich keine Vorstellung, welche Masse von Arbeit er täglich zu bewältigen hat. Das macht er alles alleine. Scheint diese Fischereien niemand anvertrauen zu wollen.«
»Und doch hat er eine volle halbe Stunde darauf verwandt, mein kleines Anliegen anzuhören«, warf der Kommissar ein.
»Klein? So? Freut mich zu hören. Aber es ist doch schade, daß Sie dann nicht lieber weggeblieben sind. Dieser Kampf nimmt ihn schrecklich her. Er reibt sich auf. Das merke ich an der Art, wie er sich auf meinen Arm stützt, wenn wir hinübergehen. Und dann möchte ich wissen: ist er auf der Straße sicher? Mullins hat heute nachmittag seine Leute hergebracht. An jedem Laternenpfahl steht ein Schutzmann und jeder zweite Mensch, dem wir von hier bis Palace Yard begegnen, ist unverkennbar ein ›Verdeckter‹. Das muß ihm nächstens auf die Nerven gehen. Die ausländischen Schufte werden doch nichts nach ihm werfen – oder doch? Das wäre ein nationales Unglück! Das Land kann ihn nicht entbehren.«
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