Wie er so an die ausgezeichnete Freundin seiner Frau und an sich selbst dachte, empfand der Kommissar lebhafte Beunruhigung über das mögliche Schicksal des Sträflings Michaelis. Wurde dieser nämlich einmal verhaftet, auf den, wenn auch leisen Verdacht hin, an diesem Anschlag beteiligt zu sein, so hatte er zum mindesten zu gewärtigen, daß er seine erste Strafe absitzen mußte, und das würde ihn töten. Er würde das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen. Der Kommissar stellte eine Erwägung an, die sich mit seiner amtlichen Eigenschaft schlecht vertrug, ohne deswegen seine Menschlichkeit in ein besonders gutes Licht zu rücken.
»Wenn sie den Burschen nochmals hopp nehmen,« dachte er, »so wird sie mir niemals verzeihen.«
Die Selbsterkenntnis, die darin lag, weckte natürlich seinen Spott. Kein Mann, der in einem ungeliebten Beruf steckt, vermag sich über seine eigene Person auf die Dauer angenehmen Selbsttäuschungen hinzugeben. Der Widerwille, das Fehlen jeglichen Anreizes, übertragen sich von der Arbeit auf die Persönlichkeit. Nur dann, wenn unsere Berufstätigkeit durch glücklichen Zufall sich mit unserer hervorstechenden Veranlagung deckt, vermögen wir den Trost gründlicher Selbsttäuschung zu genießen. Der Kommissar liebte seine Arbeit in der Heimat nicht. Draußen, in einem fernen Winkel der Welt, hatte der gleiche Beruf den angenehmen Beigeschmack eines Kleinkrieges oder zum mindesten doch den Reiz eines Freiluftsports. Seine wirklichen Fähigkeiten lagen zwar mehr auf dem Gebiete der Verwaltung, doch fehlte ihm die Lust zu Abenteuern nicht. Nun, inmitten von vier Millionen Menschen an einen Schreibtisch gefesselt, betrachtete er sich als das Opfer eines launischen Schicksals – des gleichen Schicksals, das ihn mit einer Frau verheiratet hatte, die gegen das koloniale Klima so überempfindlich war und auch sonst sich in Grenzen bewegte, die von der Zartheit ihrer Natur und ihres Geschmacks zeugten. Wenn er nun auch seine Bestürzung belächelte, so verbannte er darum den unziemlichen Gedanken doch nicht aus seinem Hirn. Der Selbsterhaltungstrieb war stark in ihm. Im Gegenteil, er wiederholte sich in gröberen Worten und noch nachdrücklicher: »Verdammt! Wenn der Teufels-Heat seinen Willen bekommt, so wird der Bursche im Gefängnis in seinem eigenen Fett ersticken, und sie wird mir nie verzeihen!«
Seine schwarze, schmächtige Gestalt, nur belebt durch das weiße Band des Kragens unter dem silberschimmernden Haar, blieb reglos. Das Schweigen wurde so drückend, daß Inspektor Heat sich zu räuspern wagte. Das kleine Geräusch hatte seine Wirkung. Der eifrige und intelligente Offizier wurde von seinem Vorgesetzten, dessen Rücken ihm unverwandt zugekehrt blieb, gefragt:
»Sie bringen Michaelis mit der Sache in Verbindung?«
Hauptinspektor Heat äußerte sich bestimmt, aber vorsichtig:
»Nun, Herr,« sagte er, »es sprechen Gründe genug dafür. Und ein Mann wie er sollte eben nicht frei herumlaufen.«
»Sie werden einen schlüssigen Beweis brauchen«, kam die halblaute Gegenrede.
Hauptinspektor Heat hob die Augenbrauen gegen den schwarzen, schmalen Rücken, der hartnäckig seinem Eifer und seiner Intelligenz zugekehrt blieb.
»Es wird wohl keine Schwierigkeiten haben, Beweise gegen ihn zuwege zu bringen«, sagte er nicht ohne Selbstgefälligkeit. »Darin können Sie sich auf mich verlassen, Herr«, fügte er, ganz überflüssig, aus übervollem Herzen hinzu; denn ihm schien es eine ganz ausgezeichnete Sache, diesen Mann in der Hand zu haben, um ihn dem Publikum vorwerfen zu können, falls es sich zu besonderer Entrüstung in diesem Falle verleitet fühlen sollte. Noch war es unmöglich, zu sagen, ob die Leute sich entrüsten würden oder nicht. Das hing natürlich letzten Endes von der Tagespresse ab. In jedem Falle aber war Hauptinspektor Heat, von Beruf Belieferer der Gefängnisse und ein Mann von gesetzmäßigem Instinkt, folgerichtig der Ansicht, daß Einkerkerung das rechte Schicksal für jeden erklärten Feind der Gesellschaft war. Die Strenge dieser Überzeugung verleitete ihn zu einem Taktfehler. Er erlaubte sich ein kleines, eitles Lächeln und wiederholte:
»Lassen Sie das meine Sache sein, Herr!«
Das war zuviel für die erzwungene Ruhe, unter der der Kommissar mehr als achtzehn Monate lang seinen Ärger über das System und die Untergebenen seiner Abteilung verborgen hatte. Wie ein vierkantiger Pfahl in ein rundes Loch gezwängt, hatte er täglich neu die Qual der seit langem ausgeschliffenen glatten Rundung empfunden, in die sich ein nicht so kantiger Mensch wie er nach kurzem Widerstreben willig eingefügt hätte. Was ihn am meisten ärgerte, war eben, daß er sich in so vielen Dingen auf andere verlassen sollte. Beim Klang des kurzen Auflachens fuhr er auf den Absätzen herum, als hätte ihn ein elektrischer Schlag vom Fenster fortgewirbelt. Dabei überraschte er auf dem Gesicht seines Inspektors nicht nur das selbstgefällige Zucken um den Schnurrbart, das der Gelegenheit angemessen war, sondern auch den Schimmer forschender Prüfung in den Augen, die zweifellos auf seinen Rücken gerichtet gewesen waren und nun, als sein Blick sie traf, erst nach einer Sekunde den Ausdruck bloßer Verwunderung annahmen.
Der Polizeikommissar brachte wirklich einige Anlage für seinen Posten mit. Plötzlich war sein Verdacht erweckt. Es muß allerdings gesagt werden, daß sein Verdacht gegen die polizeiliche Methode (ausgenommen, wenn die Polizei eine halb militärische Körperschaft und von ihm selbst organisiert war) leicht zu erwecken war. Wenn dieser Verdacht jemals aus bloßer Müdigkeit schlummerte, so doch nur leicht; und seine Wertschätzung für Inspektor Heats Eifer und Geschicklichkeit, an sich gemäßigt, schloß jeden Ansatz zu ehrlichem Vertrauen aus. »Er hat etwas im Sinn«, sagte er sich und wurde auch schon zornig. Er ging mit langen Schritten zu seinem Tisch und setzte sich heftig nieder. »Da stecke ich nun in einem Papiersarg,« überlegte er mit unvernünftiger Bitterkeit, »soll angeblich alle Fäden in meiner Hand halten und kann doch nur halten, was mir in die Hand gelegt wird und sonst nichts. Und die anderen Enden der Fäden können sie anbinden, wo sie mögen.«
Er hob den Kopf und wandte seinem Untergebenen ein langes, mageres Gesicht zu, mit den scharfen Zügen eines energischen Don Quichotte.
»Was haben Sie für Hintergedanken?«
Der andere starrte. Er starrte in völliger Reglosigkeit seiner runden Augen, wie er es gewöhnt war, die verschiedenen Mitglieder der Verbrecherklasse anzustarren, wenn sie, gehörig gewarnt, ihre Aussagen machten, im Tone gekränkter Unschuld, falscher Einfältigkeit oder dumpfer Ergebung. Hinter dieser beruflichen Starrheit verbarg sich aber auch Überraschung, denn in diesem Tone, in dem sich Ungeduld und Geringschätzung deutlich paarten, war Hauptinspektor Heat, die rechte Hand der Abteilung, nicht gewöhnt, angeredet zu werden. Er sprach zögernd, wie jemand, der durch ein neues und unerwartetes Ereignis überrumpelt wird:
»Was ich gegen diesen Michaelis habe, meinen Sie, Herr?«
Der Kommissar betrachtete sich den runden Kopf, die Spitzen des Wikinger-Schnurrbarts, die bis über den schweren Unterkiefer herabfielen, das ganze große und bleiche Gesicht, dessen entschlossener Ausdruck unter der Vollfleischigkeit litt, die listigen Runzeln, die von den Augenwinkeln ausstrahlten – und während dieser eingehenden Betrachtung des vertrauenswürdigen Offiziers kam ihm eine Überzeugung, so unvermittelt, daß er sie wie eine Eingebung empfand.
»Ich habe allen Anlaß zu glauben,« sagte er gemessen, »daß Sie beim Betreten dieses Zimmers durchaus nicht Michaelis im Auge hatten, wenigstens nicht in erster Linie – vielleicht gar nicht.«
»Sie haben Anlaß zu glauben, Herr?« murmelte Inspektor Heat mit allen Anzeichen eines Erstaunens, das bis zu einem gewissen Grade echt war. Er hatte an dieser Angelegenheit eine verblüffend heikle Seite entdeckt, die einen gewissen Grad von Unaufrichtigkeit nötig machte – jene Unaufrichtigkeit, die unter der Bezeichnung Kunstfertigkeit, Klugheit, Verschwiegenheit da und dort in den meisten menschlichen Angelegenheiten auftaucht. Er kam sich im Augenblick vor wie etwa ein Seiltänzer, der es erleben muß, daß mitten während der Vorführung der Varietédirektor aus seiner sauberen Abgeschlossenheit hervorstürzt und an dem Seil zu rütteln beginnt. Natürlich, das Gefühl sittlicher Haltlosigkeit angesichts dieses verräterischen Vorgehens, dazu noch die zwingende Vorstellung eines gebrochenen Genicks, würden, landläufig ausgedrückt, den Mann in Zustände versetzen. Auch mußte er sich als Künstler getroffen fühlen, denn ein Mann muß immer noch jenseits seiner eigenen Persönlichkeit einen Halt haben, in den er seinen Stolz setzen kann, sei es die gesellschaftliche Stellung oder die berufliche Pflicht, oder einfach die erhabene Muße, deren er sich erfreuen darf.
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