Ich blickte zu dem Peilstock hinunter und ärgerte mich beträchtlich, weil nach jeder Lotung ein größeres Stück davon aus dem Wasser herausstand. Da sah ich, wie der Mann das Peilen plötzlich aufgab und sich flach auf Deck hinstreckte, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen, seinen Peilstock hereinzuholen. Er hielt ihn aber fest und ließ ihn im Wasser nachschleppen. Gleichzeitig setzte sich der Heizer, den ich ebenfalls unter mir sehen konnte, plötzlich nieder und duckte den Kopf. Ich war verblüfft. Dann hatte ich aber wieder schnell auf den Strom hinauszusehen, denn ein Baumstamm kam uns in den Weg. Stecken, kleine Stecken flogen umher! Sie zischten mir um die Nase, fielen unter mir nieder, prasselten hinter mir gegen mein Ruderhaus. Die ganze Zeit über waren der Strom, die Ufer, die Wälder ganz ruhig, – vollkommen ruhig. Ich konnte nichts hören als das schwere Aufklatschen des Heckrades und das Prasseln dieser kleinen Dinger. Wir wichen umständlich dem Baumstamm aus. Pfeile, bei Gott! Wir wurden beschossen! Ich trat schleunigst ins Haus, um den Laden nach dem Ufer zu zu schließen. Der närrische Steuermann, die Hände an den Speichen, zog die Knie hoch, stampfte mit den Füßen und hatte Schaum vor dem Munde, wie ein hartgezügeltes Pferd. Verdammter Kerl! Und wir paddelten keine drei Meter vom Ufer hin. Ich mußte mich hinauslehnen, um den schweren Laden hereinzuholen, und sah zwischen den Blättern, in gleicher Höhe mit dem meinen, ein Gesicht, das mich stolz und fest anblickte; und plötzlich, als wäre ein Schleier vor meinen Augen weggezogen worden, konnte ich in dem Blattgewirr da und dort eine nackte Brust, Arme, Beine, blitzende Augen ausnehmen – der Busch wimmelte von bewegten menschlichen Gliedern, die in dunkler Bronzefarbe glänzten. Die Zweige bewegten sich, schwangen und raschelten, die Pfeile flogen daraus hervor, und endlich ging der Laden zu. ›Halt ihn auf Kurs‹, sagte ich dem Mann am Ruder. Er hielt den Kopf hochgereckt und sah geradeaus; aber seine Augen rollten, er fuhr immer noch fort, seine Füße langsam hochzuziehen und niederzustoßen, sein Mund schäumte ein wenig. ›Bleib doch ruhig!‹ sagte ich wütend. Ich hätte ebensogut auch einem Baum befehlen können, nicht im Winde zu schwanken. Ich sprang hinaus. Unter mir gab es großes Füßescharren auf dem Eisendeck, ein Durcheinander von Rufen; eine Stimme schrie: ›Können Sie nicht umdrehen?‹ Ich sah eine V-förmige Kräuselung auf dem Wasser vor uns. Was? Noch ein Baumstamm? Unter meinen Füßen brach ein Schützenfeuer los. Die Pilger unterhielten es mit ihren Winchestergewehren und spritzten einfach Blei in den Busch. Eine ganz verteufelte Rauchwolke stieg auf und trieb langsam nach vorn. Ich fluchte darüber. Nun konnte ich weder die Kräuselung noch den Baumstamm sehen. Ich stand spähend in der Tür, und die Pfeile kamen in Schwärmen. Sie mochten vergiftet sein, sahen aber aus, als könnten sie keine Katze töten. Der Busch begann zu heulen. Auch unsere Holzfäller erhoben ein Kriegsgeschrei; ein Büchsenknall gerade hinter mir betäubte mich. Ich sah über die Schulter zurück, und das Ruderhaus war noch voll von dem Lärm und dem Rauch, als ich an das Rad sprang. Der närrische Neger hatte alles im Stich gelassen, um den Laden aufzuwerfen und die Martini-Henry abzufeuern. Er stand in der weiten Öffnung und glotzte, und ich brüllte ihm zu, zurückzukommen, während ich mich mühte, das Schiff nach dem plötzlichen Abfallen wieder auf Kurs zu bringen. Es war kein Platz zum Umkehren, auch wenn ich es gewollt hätte. Der Baumstamm in dem verdammten Rauch mußte ganz nahe sein. Es war keine Zeit zu verlieren, und so hielt ich kerzengerade aufs Ufer zu, einfach aufs Ufer zu, wo, wie ich wußte, das Wasser tief war.
Wir drückten uns langsam an den überhängenden Büschen entlang, in einem Aufrauschen geknickter Zweige und wirbelnder Blätter. Das Schützenfeuer unten brach kurz ab, wie ich es ja erwartet hatte, sobald die Spritzen leer sein würden. Ich wandte den Kopf zurück nach einem scharfen Blitz, der das Ruderhaus durchquerte, beim einen Fensterladen herein, zum andern hinaus. Als ich nach dem närrischen Steuermann sah, der das leere Gewehr schwang und zum Ufer hinüberbrüllte, bemerkte ich undeutliche Gestalten von Männern, die tiefgebückt hinrannten, sprangen und glitten. Etwas Großes erschien in der Luft vor der Fensteröffnung, die Büchse fiel über Bord, der Mann trat schnell zurück, sah mich über seine Schulter weg mit einem ganz ungewöhnlichen, ich möchte sagen vertrauten Ausdruck an und fiel über meine Füße. Seine Schläfe schlug zweimal gegen das Rad, und das Ende eines langen Rohres klapperte herum und warf einen kleinen Feldstuhl über den Haufen. Es sah aus, als hätte er das Ding jemand am Ufer aus den Händen gerissen und bei der Anstrengung das Gleichgewicht verloren. Der dünne Rauch war verflogen, wir waren klar von dem Baumstamm und ein Blick voraus belehrte mich, daß ich nach weiteren hundert Metern ungehindert würde abfallen können, vom Ufer weg; meine Füße fühlten sich so warm und feucht an, daß ich hinuntersehen mußte. Der Mann war auf den Rücken gerollt und starrte gerade zu mir empor; er hielt mit beiden Händen das Stück Rohr umklammert. Es war der Schaft eines Speeres, der, durch die Öffnung entweder geschleudert oder gestoßen, ihn gerade unterhalb der Rippen getroffen hatte; das Blatt war tief eingedrungen, nicht mehr zu sehen und hatte eine scheußliche Wunde gemacht; meine Schuhe waren naß; eine Blutlache lag ganz ruhig, rot leuchtend unter dem Rad; die Augen des Mannes glänzten vor Verwunderung. Wieder brach das Schützenfeuer los. Er sah mich ängstlich an und umklammerte dabei den Speer, wie etwas Kostbares, mit einem Ausdruck, als fürchtete er, ich würde versuchen, ihn ihm wegzunehmen. Ich mußte mich zusammenreißen, um meine Augen von ihm wenden und auf den Kurs achten zu können. Mit einer Hand fühlte ich über meinem Kopf nach der Dampfpfeifenleine und ließ schnell hintereinander Pfiff um Pfiff erschallen. Das Durcheinander wütender und kreischender Rufe brach sofort ab, dann erscholl aus den Tiefen der Wälder eine so zitternde, langgezogene Klage, voll Trauer, Furcht und äußerster Verzweiflung, wie sie wohl dem Abschied der letzten Hoffnung von der Erde folgen könnte. Es gab eine große Bewegung im Busch; der Pfeilregen hörte auf. Einige vereinzelte Schüsse knallten noch scharf – dann ein Schweigen, währenddessen der langsame Schlag des Heckrades deutlich an mein Ohr kam. Ich legte das Ruder hart nach Steuerbord, im Augenblick, als der Pilger im roten Pyjama ganz erhitzt und aufgeregt in der Türe erschien. ›Der Direktor schickt mich…‹ begann er im Dienstton und brach kurz ab. ›Großer Gott‹, sagte er, mit einem Blick auf den Verwundeten.
Wir beiden Weißen standen über ihn gebeugt, und sein glänzender, forschender Blick umfaßte uns beide. Ich sage euch, es sah aus, als wollte er uns jeden Augenblick in verständlicher Sprache eine Frage stellen; aber er starb, ohne einen Laut von sich zu geben, ohne ein Glied zu rühren, ohne mit den Muskeln zu zucken. Erst im allerletzten Augenblick, wie als Antwort auf ein Zeichen, das wir nicht sehen, auf ein Flüstern, das wir nicht hören konnten, erst im letzten Augenblick runzelte er schwer die Stirn, und dieses Runzeln gab seiner schwarzen Totenmaske einen unbeschreiblich düsteren und drohenden Ausdruck. Der Glanz des forschenden Blickes verging schnell in glasige Leere. ›Können Sie steuern?‹ fragte ich den Agenten hastig. Er sah recht zweifelhaft drein; aber ich faßte nach seinem Arm, und er begriff sofort, daß ich ihn steuern machen wollte, ob er es konnte oder nicht. Um die Wahrheit zu gestehen, hatte ich es äußerst eilig, meine Schuhe und Socken zu wechseln. ›Er ist tot‹, murmelte der Bursche tief erschüttert. ›Kein Zweifel darüber‹, sagte ich und zerrte wie verrückt an den Schuhbändern; ›und, nebenbei gesagt, glaube ich, daß Herr Kurtz jetzt schon ebenso tot ist.‹
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