Er faßte ihre Hand, er versuchte sie zu halten. – Sie entzog sie ihm sanft. »Reisen Sie glücklich,« sagte sie, und in ihrer Stimme klang noch einmal alle Güte mit, die ihm nun für alle Zeit verloren war; sie wandte sich, und ohne ihren Schritt zu beschleunigen, aber unwiderrufbar ging sie nach dem Hause zurück, hinter dessen Türe sie verschwand.
Nur eine kurze Weile stand Gräsler starr, dann eilte er zum Wagen, stieg ein, hüllte sich in Mantel und Decke und fuhr durch die Nacht heimwärts. Trotz erwachte in seinem Herzen. Gut denn, sagte er bei sich, du willst es so, du treibst mich selbst in die Arme einer andern, du sollst deinen Willen haben. Mehr noch. Du 191 sollst es erfahren … Eh ich in den Süden reise, komme ich mit ihr hierher. Ich werde ein paar Tage mit ihr hier wohnen. Ich werde mit ihr spazierenfahren, am Forsthause vorbei. Du sollst sie sehen! Du sollst sie kennenlernen. Du sollst mit ihr sprechen. Hier erlaube ich mir, Ihnen meine Braut vorzustellen, Fräulein Sabine! Keine so reine Seele als Sie, mein Fräulein, aber dafür auch keine so kalte! Nicht so stolz, aber gütig. Nicht so keusch, aber süß! Katharina heißt sie – Katharina …
Er sprach den Namen laut vor sich hin. Und je weiter der Wagen sich vom Forsthaus entfernte, um so heißer stieg die Sehnsucht nach Katharina in ihm empor, und wurde bald zu dem wundersam sicheren Frohgefühl, daß er die Geliebte bald, – morgen – morgen abend schon wieder in seinen Armen halten konnte. Was sie für Augen machen würde, wenn sie ihn plötzlich abends um sieben Uhr in der Wilhelmstraße erblickte? Das sollte eine Überraschung sein. Und eine andere, größere stand ihr bevor. Denn ein Philister war er nicht. Er hatte nichts anderes als den Wunsch, 192 glücklich zu sein, und so wollte er das Glück nehmen, wo es so herzlich, so unbedenklich, so wahrhaft frauenhaft dargeboten wurde, wie von Katharina … Katharina … Wie gut war es doch, daß er Sabine noch einmal gesehen hatte. Nun erst wußte er, daß Katharina die Rechte für ihn war und keine andere.
Inhaltsverzeichnis
Am nächsten Abend, eine Stunde nach seiner Ankunft, stand er an der Straßenecke, von der aus er Katharina sofort erblicken mußte, wenn sie den Handschuhladen verließ. Die beiden neben ihr in dem Geschäft angestellten Verkäuferinnen traten eine nach der andern aus der Tür und verschwanden, die Rolladen wurden geschlossen, der Geschäftsdiener entfernte sich, das Bogenlicht erlosch – und Katharina war nicht erschienen. Sonderbar. Höchst sonderbar. Ihr Urlaub war doch abgelaufen! Was also konnte sie vom Geschäfte ferngehalten haben? Eine plötzliche 193 Eifersucht flammte in Gräsler auf; kein Zweifel – sie war mit jemand anderm zusammen. Mit einem alten Bekannten vermutlich, für den man wieder Zeit hatte, jetzt, da der alte Doktor aus Portugal mit den indischen Schleiern und Bernsteinketten abgereist war. Vielleicht war’s auch eine ganz neue Bekanntschaft. Warum nicht? So was macht sich ja sehr geschwind bei unsereinem, Fräulein Katharina, nicht wahr? Wo mögen Sie denn nur stecken? Im Theater wahrscheinlich! Das ist ja wohl die feststehende Reihenfolge? Am ersten Abend Theater und gemeinsames Abendessen, am zweiten – alles übrige! Das hatte sie wohl schon etliche Male mitgemacht. Aber daß die Geschichte gleich am nächsten Tage von neuem anfing, das ging denn doch über den Spaß! Die Elende, um deretwillen er ein Wesen wie Sabine verloren hatte. Davonspaziert mit Schals und Hüten und Kleidern und Schmuck und macht sich am Ende noch lustig mit irgendeinem jungen Kerl über den alten Narren aus Portugal … So jagten seine Gedanken, und in absichtlicher Selbstquälerei lehnte 194 er die Möglichkeit harmloserer Gründe für Katharinens Nichterscheinen innerlich ab. Was also beginnen? Sich ruhig nach Hause trollen und die Sache auf sich beruhen lassen, das wäre gewiß das Vernünftigste gewesen; aber so viel Selbstüberwindung brachte er nicht auf. So entschloß er sich denn, den Weg nach der Vorstadt einzuschlagen, um vor allem einmal in der Nähe ihres Hauses Aufstellung zu nehmen und zu warten. Es würde sich ja bald zeigen, mit wem sie angerückt käme, es sei denn, sie hätte sich etwa bei dem neuen Liebhaber gleich häuslich eingerichtet … Aber das war nicht zu befürchten. Es fand sich nicht bald wieder ein Narr, solch ein Geschöpf als Hausgenossin bei sich aufzunehmen, solch ein abgefeimtes, schwatzhaftes, ungebildetes, verlogenes Ding. Er verachtete sie unbändig und gab sich diesem Gefühl rückhaltlos, ja mit einer gewissen Wollust hin. Finden Sie das etwa philiströs?, mein Fräulein, wandte er sich plötzlich an die ferne Sabine, gegen die er nun gleichfalls einen heftigen Groll in sich aufsteigen verspürte. Nun, ich kann Ihnen nicht helfen. Es 195 kann eben keiner aus seiner Haut, kein Mann und kein Weib. Die eine ist zur Dirne geboren, die andere ist dazu geschaffen, eine alte Jungfer zu werden, und eine dritte, trotz der besten Erziehung in einem guten deutschen Bürgerhaus, führt eine Existenz wie eine Kokotte, hintergeht ihre Eltern, ihren Bruder – und bringt sich um, wenn kein gefälliges Männerherz mehr sich findet. Und mich hat Gott nun einmal zum Pedanten und Philister geschaffen. Aber beim Himmel, es ist nicht das Schlechteste, ein Philister zu sein! Denn wenn man gegenüber gewissen Frauenzimmern nicht den Philister herauskehrt, so ist man eben der Genarrte. Und ich bin noch lange nicht Philister genug; denn wenn ein gewisses Fräulein zufällig ihr Stelldichein verschoben hätte und um sieben Uhr abends sittsam aus dem Geschäft gekommen wäre, ich wäre wahrhaftig imstande gewesen und hätte sie mir als Frau Doktor nach Lanzarote mitgenommen. Da hätten Sie wohl Ihre Freude daran gehabt, Herr Direktor. Aber daraus wird nichts. Ich komme Gott sei Dank so allein, wie ich abgereist bin, wenn ich 196 überhaupt komme, was noch nicht ausgemacht ist. Keineswegs aber werde ich Ihrem geschätzten Befehle nach schon am 27. Oktober eintreffen, selbst, wenn es noch möglich wäre! Vorher werde ich nach Berlin, möglicherweise auch nach Paris fahren und mich einmal ordentlich amüsieren, so wie ich mich noch nie amüsiert habe. Und er träumte sich in übelberüchtigte Lokale mit wilden Tänzen von halbnackten Weibern, plante ungeheuerliche Orgien als eine Art dämonischer Rache an dem erbärmlichen Geschlecht, das so tückisch und treulos an ihm gehandelt, Rache an Katharina, an Sabine und an Friederike.
Indes war er unversehens vor Katharinens Wohnhaus angelangt. Ein unfreundlicher Wind hatte sich erhoben und fegte den Staub durch die armselige Gasse. Da und dort wurden eilig Fenster geschlossen. Gräsler sah auf die Uhr. Es war noch lange nicht acht. Wie viele und was für Stunden standen ihm nun bevor. Es konnte zehn werden, auch elf Uhr, zwölf, auch morgen früh, bis das Fräulein nach Hause kam.
197 Der Gedanke, so aufs Ungewisse hin hier in Wind und Regen – schon fielen die ersten Tropfen – stundenlang auf und ab zu laufen, war recht peinlich. Und nun begann er doch einer inneren Stimme Gehör zu geben, die sich schon längst schüchtern gemeldet hatte. Wenn Katharina am Ende zu Hause wäre? Vielleicht, daß sie früher aus dem Geschäfte fortgegangen war, – wenn das auch am ersten Tag nach ihrem Urlaub nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich hatte. Oder ihr Urlaub war noch gar nicht abgelaufen, und sie verbrachte den letzten freien Tag im Kreise der Familie? Er glaubte das alles selbst nicht recht, aber diese Erwägungen taten ihm wohl, um so mehr, als es ja nicht übermäßig schwierig war, sich Gewißheit zu verschaffen. Man bemühte sich einfach die drei Treppen hinauf und fragte oben beim Herrn Postbeamten Rebner, ob das Fräulein Tochter nicht daheim wäre. Das würde kaum sonderlich auffallen. So genau nahm man es wohl nicht in einer Familie, wo das Fräulein Tochter mit doppelt soviel Gepäck vom Lande zurückkam, als sie abgereist war. Und wenn sie 198 nicht zu Hause war, so erfuhr man vielleicht bei dieser Gelegenheit, unter welch einem Vorwand sie den Abend außer Haus verbrachte. Und wenn sie daheim war, nun, um so besser, da war ja alles schön und gut, da hatte man sie eben gleich wieder und machte alles Nötige für morgen, übermorgen und die nächsten Tage mit ihr ab. Denn dann war ja alles unsinnig, was ihm durch den Kopf gegangen war. Dann hatte er nichts zu tun, als ihr innerlich abzubitten, was er ihr zugemutet in seiner erbärmlichen Laune, an der eine andere viel mehr Schuld trug als sie. So stand er mit den besten Gesinnungen für sie vor der Wohnungstür.
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