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Am nächsten Morgen, während Doktor Gräsler seine kleine Patientin besuchte, bei der sich der Scharlach indes mit Entschiedenheit erklärt hatte, war Katharina aus seiner Wohnung verschwunden, erschien aber schon in früher Abendstunde und, zu Gräslers Verwunderung, mit einem kleinen Koffer wieder. Sie hatte wohl in der vergangenen Nacht erwähnt, daß ihr alljährlich eine Woche Urlaub zustünde, wovon sie in diesem Sommer, wie in ahnender Voraussicht, keinen Gebrauch gemacht hätte; und er, im Rausch der ersten Umarmungen, hatte sie daraufhin zu einer kleinen Hochzeitsreise eingeladen; – aber als sie ihm nun so gerüstet mit den heiteren Worten 149 entgegentrat. »Da bin ich; wenn du willst, können wir gleich auf die Bahn fahren,« wehrte sich in ihm etwas gegen diese Art, so ohne weiteres von seinem Dasein Besitz zu ergreifen, und er war beinahe froh, auf die ärztliche Verpflichtung hinweisen zu können, die ihn für die nächsten Tage in der Stadt festhielt. Katharina schien darüber nicht sonderlich betrübt, plauderte gleich von anderen Dingen, machte ihn auf ihre hübschen, neuen, gelben Halbschuhe aufmerksam, erzählte von dem Leiter ihrer Firma, der eben wieder mit neuer Ware von Paris und London zurückgekommen sei, ging dabei im Zimmer hin und her, stellte ein paar Bücher in die Reihen und brachte den Schreibtisch in Ordnung, während Gräsler, am Fenster stehend, schweigsam und irgendwie gerührt ihrem Treiben zusah. Sein Blick fiel auf das Kofferchen, das trübselig und wie beschämt auf dem Fußboden stand, und ein leises Mitleid regte sich in ihm, daß das gute Ding wieder damit abziehen sollte. Zunächst vermied er es, etwas in diesem Sinne zu äußern; später aber, als er auf seinem Schreibtischsessel, und sie 150 wie ein Kind, die Arme um seinen Hals geschlungen, ihm auf dem Schoße saß, sagte er: »Muß es denn eben eine Reise sein? Willst du deinen Urlaub nicht einfach hier in meinem Haus verbringen?« – »Das wird doch wohl nicht möglich sein,« erwiderte sie schwach. – »Warum nicht? Ist’s denn hier nicht wunderschön?« Er deutete durchs Fenster nach den fernen Hügellinien am Horizont, und scherzend fügte er hinzu. »Mit Kost und Quartier sollst du auch zufrieden sein.« Und mit einem plötzlichen Entschluß stand er auf, reichte Katharina den Arm, geleitete sie in das Zimmer seiner verstorbenen Schwester, schaltete die Deckenlampe ein, so daß durch den freundlichen Raum ein rötlich linder Schimmer floß, und mit vornehmer Gebärde bot er der Geliebten alles, was ihr Blick hier umfassen mochte, gleichsam als Geschenk dar. Katharina blieb stumm, endlich schüttelte sie ernsthaft den Kopf. »Willst du nicht?« fragte Gräsler zärtlich. –»Es ist doch nicht möglich,« erwiderte sie leise. – »Weshalb? Es ist sehr wohl möglich.« Und als hätte er nichts weiter als eine 151 abergläubische Regung in ihr zu bekämpfen, erklärte er: »Alles ist ganz neu, sogar die Tapeten. Früher sah es lange nicht so freundlich aus.« Und etwas zögernd fügte er hinzu: »Es hat wohl alles so kommen müssen.« – »Sag’ das nicht,« erwiderte sie wie erschreckt. Dann blickte sie sich rings im Zimmer um, ihre Züge erhellten sich, und sie streifte wie prüfend über den buntgeblümten Waschstoff des Lehnstuhls, der an das Bett gerückt war. Dann fiel ihr Auge auf die lichten Vorhänge, die, über dem Toilettentisch auseinandergerafft, eine hübsche Kammgarnitur und geschliffene Glasphiolen sehen ließen. Während sie so versunken dastand, verließ Gräsler rasch das Zimmer, um nach ein paar Sekunden mit ihrem kleinen Koffer zurückzukehren. Sie wandte sich um, zuckte leicht zusammen, lächelte halb ungläubig; er nickte ihr zu, sie schüttelte den Kopf, – dann, wie endlich bezwungen, breitete sie die Arme nach ihm aus; er stellte das Kofferchen hin, und mit gerührtem Stolz schloß er die Geliebte an seine Brust.
Es wurde eine wunderschöne Zeit, wie er sie 152 auch in seiner Jugend kaum jemals erlebt hatte. Sie hielten sich wie glückliche Neuvermählte beinahe den ganzen Tag in ihren behaglichen vier Wänden, sorgsam bedient von der Buchdruckersgattin, die sich mit einer hierorts immerhin nicht gewöhnlichen Sachlage um so gelassener abfand, als Doktor Gräsler indes ihren unbescheidenen Wunsch erfüllt und sie aus der Garderobe seiner verstorbenen Schwester reichlich genug beschenkt hatte. In den Abendstunden pflegte das junge Paar, Arm in Arm, zärtlich aneinandergeschmiegt, in stilleren Gassen sich zu ergehen, und einmal, in einer sonnigen Frühnachmittagsstunde, fuhren sie im offenen Wagen ins Freie, gänzlich unbekümmert darum, daß man etwa Katharinens Angehörigen begegnen könnte, die das junge Mädchen bei einer Freundin auf dem Land vermuteten. Eines Tages, als sie eben noch bei Tische saßen, erschien Böhlinger, und Doktor Gräsler, nach anfänglichem Bedenken, ob er ihn vorlassen sollte, war später um so befriedigter, ihn empfangen zu haben, als der Rechtsanwalt der anmutigen Gefährtin seines Freundes alle 153 erdenkliche Höflichkeit erwies, sie als gnädige Frau anredete und nach flüchtiger Behandlung der geschäftlichen Angelegenheit, die ihn heraufgeführt, mit einem leichten Kuß auf Katharinens Hand weltmännisch kühl sich empfahl. Gräsler aber war danach von einer gesteigerten Zärtlichkeit für Katharina erfüllt, die sich wie als Hausfrau auch gesellschaftlich so vollkommen zu bewähren wußte.
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Seine kleine Patientin besuchte Doktor Gräsler jeden Morgen, worauf er, mit Rücksicht auf eine mögliche Gefährdung von Katharinens Gesundheit, einen halbstündigen Spaziergang vorzunehmen pflegte. Der Fall, der so bedrohlich eingesetzt, nahm einen überraschend leichten Verlauf, und nachdem die angstvolle Erregung der ersten Tage geschwunden war, zeigte sich Frau Sommer als eine sehr umgängliche, heitere, ja plauderhafte Dame; und ob es nun als Zufall oder 154 Absicht gedeutet werden mochte, keinesfalls achtete sie besonders darauf, ob der Morgenrock, in dem sie den Arzt ihres Kindes empfing, über Hals und Brust so sorgfältig geschlossen war, als es der strengere Anstand vielleicht erfordert hätte. Sie versäumte nie, sich nach dem Befinden von Gräslers »kleiner Freundin« zu erkundigen, wie sie Katharina gerne nannte, fragte ihn, ob er seinen Schatz nach Afrika mitzunehmen gedenke, – sie hatte sich nun einmal zu dieser ihr geläufigen Bezeichnung für Gräslers Winterziel entschlossen – oder ob dort schon eine andere Schöne, eine Schwarze vielleicht, in Sehnsucht seiner harre –; und endlich wollte sie ihm durchaus eine Tüte mit Schokoladenplätzchen als Geschenk für Katharina aufdrängen, was er aber mit Rücksicht auf die Ansteckungsgefahr abzulehnen für richtig fand. Andererseits ließ es Katharina an Bemerkungen über die junge Witwe nicht fehlen, die, wenn auch ein spöttischer Beiklang durch eifersüchtige Regungen mitveranlaßt sein mochte, nach Gräslers eigenem Eindruck nicht gänzlich unberechtigt schienen. Der Ruf von Frau 155 Sommer war schon zu Lebzeiten des Gatten, der als Geschäftsreisender sich nur selten im ehelichen Heim aufhielt, nicht der allerbeste gewesen; ihr kleines Mädchen hatte sie in die Ehe mitgebracht, und es galt als zweifelhaft, ob ihr Gatte zugleich der Vater des Kindes wäre. Dies alles wurde Katharinen von der Buchdruckersfrau zugetragen, mit der sie in den spärlichen Stunden, da Doktor Gräsler vom Hause abwesend war, mehr und jedenfalls vertrauter sich zu unterhalten liebte, als diesem angenehm war.
Einmal versuchte er, die Geliebte auf das Unstatthafte eines solchen Verkehrs aufmerksam zu machen; doch als Katharina seine Bedenken kaum zu verstehen schien, kam er nicht wieder darauf zurück, da er sich die so kurz bemessene Zeit seines Glücks durch Mißhelligkeiten nicht wollte trüben lassen, und er überdies fest entschlossen war, dieses Erlebnis nur als ein hübsches Abenteuer anzusehen, dem keinerlei Folge verstattet war. Wenn sie ihn daher neugierig bescheiden und wie absichtslos über seine Winterpläne auszufragen und sich nach den klimatischen und gesellschaftlichen 156 Verhältnissen der Insel Lanzarote zu erkundigen begann, führte er das Gespräch so beiläufig als möglich, lenkte es auch bald anderswohin, um nur ja keinerlei Hoffnungen in ihr aufkommen zu lassen, die zu erfüllen er sich keineswegs geneigt wußte. In dem steten Wunsch, diese kurzen Wochen schattenlos zu genießen, fragte er auch nicht viel nach ihrer Vergangenheit, ließ sich’s an der Gegenwart genügen und freute sich nicht nur des Glücks, das er genoß, sondern mehr noch dessen, das er zu geben imstande war.
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