Er zeigte sich zufrieden, daß ich mitfahren wollte; meine Mutter sah es auch gern und legte mir einige Sachen zurecht, indessen ich das Gefährt aus dem Gasthause holte, wo es eingestellt war. Anna sah allerliebst aus, als sie wohlvermummt und verschleiert dem Schulmeister zur Seite saß. Ich behauptete den Vordersitz und hatte das Leitseil des gutgenährten Pferdes ergriffen, welches ungeduldig scharrte; die Mutter machte sich noch lange am Wagen zu schaffen und wiederholte dem Schulmeister ihre Anerbietungen zu jeglicher Hilfe und, wenn es notwendig würde, hinzukommen und Anna zu pflegen; die Nachbaren steckten die Köpfe aus den Fenstern und vermehrten mein angenehmes Selbstbewußtsein, als ich endlich mit meiner liebenswürdigen und anmutigen Gesellschaft die enge Straße entlangfuhr.
Es glänzte ein sonniger Herbstnachmittag auf dem Lande. Wir fuhren durch Dörfer und Felder, sahen die Gehölze und Anhöhen im zarten Dufte liegen, hörten die Jägerhörnchen in der Ferne, begegneten überall zahlreichem Fuhrwerke, welches den Herbstsegen einbrachte; hier machten die Leute die Gefäße zur Weinlese zurecht und bauten große Kufen, dort standen sie reihenweise auf den Äckern und gruben Kartoffeln aus, anderswo wieder pflügten sie die Erde um, und die ganze Familie war dabei versammelt, von der Herbstsonne hinausgelockt; überall war es lebendig und zufrieden bewegt. Die Luft war so mild, daß Anna ihren grünen Schleier zurückschlug und ihr liebliches Gesicht zeigte. Wir vergaßen alle drei, warum wir eigentlich auf diesen Wegen fuhren; der Schulmeister war gesprächig und erzählte uns viele Geschichten von den Gegenden, durch welche wir kamen, zeigte uns die heiteren Wohnungen, wo berühmte Männer hausten, deren wohlgeordnete und gepflegte Räume und Gärten die weise Klugheit ihrer Besitzer verkündeten oder deren weiße Giebelwände und glänzende Fenster auch von entlegenen Halden im Sonnenschein die gleiche Kunde gaben. Da und dort wohnte eine berühmte Tochter oder deren zwei, von denen etwas zu erblicken wir im Vorüberfahren uns bemühten, und wenn dies gelang, so benahm sich Anna mit dem bescheidenen Anstande derjenigen, welche selbst Blumen des Landes sind.
Doch dunkelte es eine geraume Weile, ehe wir ans Ziel gelangten, und mit der Dunkelheit fiel es mir plötzlich ein, daß ich Judith das Versprechen gegeben, sie jedesmal zu besuchen, wenn ich ins Dorf käme. Anna hatte sich wieder verhüllt, ich saß nun neben ihr, da der Schulmeister, welcher die Wege besser kannte, die Zügel genommen, und weil wir der Dunkelheit wegen nun schweigsamer waren, so hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was ich tun wollte.
Je unmöglicher es mir schien, mein Versprechen zu halten, je weniger ich das Wesen, welches ich mir zur Seite fühlte und das sich nun sanft an mich lehnte, auch nur in Gedanken beleidigen und hintergehen mochte, desto dringender ward auf der andern Seite die Überzeugung, daß ich am Ende doch mein Wort halten müsse, da mich Judith nur im Vertrauen auf dasselbe in jener Nacht entlassen, und ich nahm keinen Anstand, mir einzubilden, daß das Brechen desselben sie kränken und ihr weh tun würde. Ich mochte um alles in der Welt gerade vor ihr nicht unmännlich als einer erscheinen, welcher aus Furcht ein Versprechen gäbe und aus Furcht dasselbe bräche. Da fand ich einen sehr klugen Ausweg, wie ich dachte, der mich wenigstens vor mir selbst rechtfertigen sollte. Ich brauchte nur bei dem Schulmeister zu wohnen, so war ich nicht im Dorfe, und wenn ich am Tage dasselbe besuchte, so brauchte ich Judith nicht zu sehen, welche sich nur meinen nächtlichen und geheimen Besuch während eines Aufenthaltes im Dorfe ausbedungen hatte.
Als wir daher in des Schulmeisters Haus ankamen und dort die Muhme mit einem Sohne und zwei Töchtern vorfanden, welche uns erwarteten, teils um sogleich zu hören, was der Arzt gesprochen, teils um dem Schulmeister das Zurückbringen des geliehenen Fuhrwerks zu ersparen, als sie nun mich mitnehmen wollten und der Schulmeister sich freundlich dagegen beschwerte, erklärte ich unversehens, hierbleiben zu wollen, und die alte Katherine, welche jetzt Annas wegen sehr sorgenvoll und kleinlaut war, eilte, mir ein Unterkommen zu bereiten, indessen Anna, welche ganz ermüdet und angegriffen war und von Husten befallen wurde, sich sogleich zu Bett begeben mußte. Sie führte mich an einen artig eingerichteten Tisch, auf welchem ihre Bücher und Arbeitssachen, auch Papier und Schreibzeug lagen, setzte Licht darauf und sagte lächelnd »Mein Vater bleibt alle Abend bei mir, bis ich eingeschlafen bin, und liest mir manchmal etwas vor. Hier kannst du dich vielleicht so lange beschäftigen. Sieh, hier mache ich etwas für dich!« und sie zeigte mir eine Stickerei zu einer kleinen Mappe, welche sie nach jener Blumenzeichnung verfertigte, die ich vor mehreren Jahren in der Weinlaube gemacht und ihr geschenkt hatte. Das naive Bild hing über ihrem Tische. Dann gab sie mir die Hand und sagte wehmütig leise und doch so freundlich: »Gut’ Nacht!« und ich sagte ebenso leise: »Gut’ Nacht!«
Einige Augenblicke nachher, als sie gegangen, kam der Schulmeister herein, und ich sah, daß er ein schön eingebundenes Andachtsbucht mitnahm, als er sich wieder entfernte, um in Annas Zimmer zu gehen. Ich hingegen beschaute alle Sächelchen, welche auf dem Tische lagen, spielte mit ihrer Schere und konnte mir gar nicht ernstlich denken, daß irgendeine Gefahr für Anna sein sollte.
Inhaltsverzeichnis
Da ich in dem Hause meines Liebchens zu Gaste war, so er wachte ich am Morgen sehr früh, noch eh eine Seele sich regte. Ich machte das Fenster auf und sah lange auf den See hinaus, dessen waldige Uferhöhen vom Morgenrote beglänzt waren, indessen der späte Mond noch am Himmel stand und sich ziemlich kräftig im dunklen Wasser spiegelte. Ich sah ihn nach und nach erbleichen vor der Sonne, welche nun die gelben Kronen der Bäume vergoldete und einen zarten Schimmer über den erblauenden See warf. Zugleich aber begann die Luft sich wieder zu verhüllen, ein leiser Nebel zog sich erst wie ein Silberschleier um alle Gegenstände, und indem er ein glänzendes Bild um das andere auslöschte, daß sich rings ein Reigen von aufleuchtendem Scheiden und Verschwinden bewegte, wurde der Nebel plötzlich so dicht, daß ich nur noch das Gärtchen vor mir sehen konnte, und zuletzt verhüllte er auch dieses und drang feucht an das Fenster. Ich schloß dieses zu, trat aus der Kammer und fand die alte Katherine in der Küche an dem traulichen hellen Feuer.
Ich plauderte lange mit ihr; sie ergoß sich in zärtlichen Klagen über Annas bedenklichen Zustand, berichtete mir, seit wann derselbe begonnen, ohne daß ich jedoch über seine eigentliche Beschaffenheit klar wurde, da sie sich mancher dunklen und geheimnisvollen Anspielung bediente. Dann begann sie mit rührender, aber ganz trefflicher Beredsamkeit das Lob Annas zu verkünden und ihr bisheriges Leben zu beschauen bis in die Kinderjahre zurück, und ich sah deutlich vor mir das dreijährige Engelchen umherspringen, in genau beschriebener Kleidung, aber freilich auch ein frühes und leidenvolles Krankenlager, auf welches das kleine Wesen dann jahrelang gelegt wurde, so daß ich nun ein schlohweißes, länglichgestrecktes Leichnamchen erblickte, mit geduldigem, klugem und immer lächelndem Angesicht. Doch das kranke Reis erholte sich, der wunderbare Ausdruck der durch das Leiden hervorgebrachten frühen Weisheit verschwand wieder in seine unbekannte Heimat, und ein rosig unbefangenes Kind blühte, als ob nichts vorgefallen wäre, der Zeit entgegen, wo ich es zuerst sah.
Endlich zeigte sich der Schulmeister, welcher, da seine Tochter nun des Morgens länger im Bette bleiben mußte und länger schlief als früher, sich des frühen Aufstehens auch nicht mehr freute und in seiner Zeiteinteilung ganz nach derjenigen seines kranken Kindes richtete. Nach einer guten Weile erschien auch Anna und nahm ihr besonders vorgeschriebenes Frühstück, indessen wir das gewöhnliche verzehrten. Es verbreitete sich dadurch eine gewisse Wehmut über den Tisch, welche nach und nach in eine ernste Beschaulichkeit überging, als wir drei sitzen blieben und uns unterhielten. Der Schulmeister nahm ein Buch, die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis, und las einige Seiten daraus vor, indessen Anna ihre Stickerei vornahm. Dann hob ihr Vater über das Gelesene ein Gespräch an und suchte mich an demselben zu beteiligen und nach der herkömmlichen Weise meine Urteilskraft zu prüfen, zu mildern und zu gemeinsamer Erbauung auf einen belehrenden Vereinigungspunkt zu lenken. Aber ich hatte durch den letzten Sommer die Lust an solchen Erörterungen fast gänzlich verloren, mein Blick war auf sinnliche Erscheinung und Gestalt gerichtet, und selbst die rätselhaften Betrachtungen über die Erfahrungen, die ich mit Römer anstellte, gingen in einem durchaus weltlichen Sinne vor sich. Außerdem fühlte ich, daß ich nun die größte Rücksicht auf Anna nehmen mußte, und als ich bemerkte, daß sie sogar froh schien, mich hier eingefangen und einem angehenden Bekehrungswerke preisgegeben zu sehen, hütete ich mich wohl, einen Widerspruch zu äußern, gab denjenigen Stellen, welche eine innere Wahrheit enthielten oder tief, schön und kraftvoll ausgedrückt waren, meinen aufrichtigen Beifall oder überließ mich einer reizenden Langweile, die schönen Farben an Annas Seidenknäulchen beschauend.
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