Neben den ausgeführten Studien sammelte sich noch ein artiger Schatz von kleinen und fragmentarischen Bleistift- und Federskizzen, die alle wohl zu brauchen waren und mein erstes, auf eigene Arbeit und wahre Einsicht gegründetes Besitztum vervollständigten.
Weil ich die mir durch den Aufenthalt Römers zugemessene Zeit wohl benutzen mußte, so konnte ich nicht daran denken, das Dorf zu besuchen, obschon ich verschiedene Grüße und Zeichen von daher erhalten hatte. Um so fleißiger dachte ich an Anna, wenn ich arbeitete und die grünen Bäume leise um mich rauschten. Ich freute mich für sie meines Lernens und daß ich in diesem Jahre so reich an Erfahrung geworden gegen das frühere Jahr; ich hoffte einigen wirklichen Wert dadurch erhalten zu haben, der in ihren Augen für mich spräche und in ihrem Hause die Hoffnung begründe, die ich selbst für mich zu hegen mir erlaubte.
Wenn ich aber nach getaner Arbeit in meines Lehrers Wohnung ausruhte, seinen Erzählungen vom südlichen Leben zuhörte und dabei seine Sachen beschaute, worunter manches Studienbild einer schönen vollen Römerin oder Albanerin dunkeläugig glänzte, so trat unversehens Judiths Bild vor mich und wich nicht von mir, bis es, von selbst Annas Gestalt hervorrufend, von dieser verdrängt wurde. Wenn ich eine blendendweiße Säulenreihe ansah und mit lebendiger Phantasie das Weben der heißen Luft zu fühlen glaubte, in welcher sie stand, so schien Judith plötzlich hinter einer Säule hervorzutreten, langsam die verfallenden Tempelstufen herabzusteigen und, mir winkend, in ein blühendes Oleandergebüsch zu verschwinden, unter welchem eine klare Quelle hervorfloß. Folgten meine Gedanken aber dahin, so sahen sie Anna im grünen Kleide an der Quelle sitzen, das silberne Krönchen auf dem Kopfe und silberblinkende Tränchen vergießend.
Der Herbst war gekommen, und als ich eines Mittags zum Essen nach Hause ging und in unsere Stube trat, sah ich auf dem Ruhbettchen einen schwarzseidenen Mantel liegen. Freudig betroffen eilte ich auf denselben zu, hob das leichte angenehme Ding in die Höhe und besah es von allen Seiten, auf der Stelle Annas Mantel erkennend. Ich eilte damit in die Küche, wo ich die Mutter beschäftigt fand, ein feineres Essen als gewöhnlich zu bereiten. Sie bestätigte mir die Ankunft des Schulmeisters und seiner Tochter, setzte aber sogleich mit besorgtem Ernst hinzu, daß dieselben nicht zum Vergnügen gekommen wären, sondern um einen berühmten Arzt zu besuchen. Während die Mutter in die Stube ging und den Tisch deckte, deutete sie mir mit einigen Worten an, daß sich bei Anna seltsame und beängstigende Anzeichen eingestellt hätten, daß der Schulmeister sehr bekümmert sei und sie, die Mutter, selbst nicht minder, denn nach der ganzen Erscheinung des armen Mädchens glaube sie nicht, daß das feine zarte Wesen lange leben würde.
Ich saß auf dem Ruhbette, hielt den Mantel fest in meinen Händen und hörte ganz verwundert auf diese Worte, die mir so unerwartet und fremd klangen, daß sie mir mehr wunderlich als erschreckend vorkamen. In diesem Augenblicke ging die Tür auf, und die ebenso geliebten als wahrhaft geehrten Gäste traten herein. Überrascht stand ich auf und ging ihnen entgegen, und erst als ich Anna die Hand geben wollte, sah ich, daß ich immer noch ihren Mantel hielt. Sie errötete und lächelte zugleich, während ich verlegen dastand; der Schulmeister warf mir vor, warum ich mich den ganzen Sommer über nie sehen lassen, und so vergaß ich über diesen Begrüßungen ganz die Mitteilung der Mutter, an welche mich auch nichts Auffallendes erinnerte. Erst als wir am Tische saßen, wurde ich durch eine gewisse vermehrte Liebe und Aufmerksamkeit, mit welcher meine Mutter Anna behandelte, erinnert und glaubte jetzt nur Zu sehen, daß sie gegen früher fast größer, aber auch zugleich zarter und schmächtiger erschien; ihre Gesichtsfarbe war wie durchsichtig geworden, und um ihre Augen, welche erhöht glänzten, bald in dem kindlichen Feuer früherer Tage, bald in einem träumerischen tiefen Nachdenken, lag etwas Leidendes. Sie war heiter und sprach ziemlich viel, während ich schwieg, hörte und sie ansah; denn sie hatte ein dreifaches Recht zu sprechen als Gast, als Mädchen und als die Hauptperson dieses Besuches, wenn auch die Ursache traurig war. Andächtig und gern beschied ich mich und gönnte von ganzem Herzen Anna die Ehre, bei Tische mit den Eltern auf gleichem Fuße zu stehen, zumal sie durch ihr Schicksal diese Ehre mit frühen Leiden zu erkaufen bestimmt schien. Auch der Schulmeister war heiter und ganz wie sonst; denn bei den Schicksalen und Leiden, welche uns Angehörige betreffen, benehmen wir uns nicht lamentabel, sondern fast vom ersten Augenblicke an mit der gleichen Gefaßtheit, mit dem gleichen Wechsel von Hoffnung, Furcht und Selbsttäuschung wie die Betroffenen selbst. Doch ermahnte jetzt der Schulmeister seine Tochter, nicht zuviel zu sprechen, und mich fragte er, ob ich die Ursache der kleinen Reise schon kenne, und fügte hinzu »Ja, lieber Heinrich! meine Anna scheint krank werden zu wollen! Doch laßt uns den Mut nicht verlieren! Der Arzt hat ja gesagt, daß vorderhand nicht viel zu sagen und zu tun wäre. Er hat uns einige Verhaltungsregeln gegeben und anbefohlen, ruhig zurückzukehren und dort zu leben, anstatt hierher zu ziehen, da die dortige Luft angemessener sei. Für unsern Doktor will er uns einen Brief mitgeben und von Zeit zu Zeit selbst hinauskommen und nachsehen.«
Ich wußte hierauf rein nichts zu erwidern noch meine Teilnahme zu bezeugen; vielmehr wurde ich ganz rot und schämte mich nur, nicht auch krank zu sein. Anna hingegen sah mich bei den Worten ihres Vaters lächelnd an, als ob sie Mitleid mit mir hätte, so peinliche Dinge hören zu müssen.
Nach dem Essen verlangte der Schulmeister, von meinen Beschäftigungen zu wissen und etwas zu sehen; ich brachte meine wohlgefüllte Mappe herbei und erzählte von meinem Meister; doch sah man jetzt wohl, daß er zu sehr von seiner Sorge befangen war, als daß er lange bei diesen Dingen hätte verweilen können. Er machte sich bereit, einige Gänge zu tun und Einkäufe zu machen, welche hauptsächlich in einigen ausländischen Produkten zu Nahrungsmitteln für Anna bestanden, welche der Arzt einstweilen verordnet. Meine Mutter begleitete ihn, und ich blieb allein mit Anna zurück. Sie fuhr fort, meine Sachen aufmerksam zu beschauen; auf dem Ruhbett sitzend, ließ sie sich alles von mir vorlegen und erklären. Während sie auf meine Landschaften sah, blickte ich auf sie nieder, manchmal mußte ich mich beugen, manchmal hielten wir ein Blatt zusammen in den Händen lange Zeit, doch ereignete sich sonst gar nichts Zärtliches zwischen uns; denn während sie für mich nun wieder ein anderes Wesen war und ich mich scheute, sie nur von ferne zu verletzen, häufte sie alle Äußerungen der Freude, der Aufmerksamkeit und sogar der Ehrenbezeugung allein auf meine Arbeiten, sah sie fort und fort an und wollte sich gar nicht von denselben trennen, während sie mich selbst nur wenig ansah.
Plötzlich sagte sie »Unsere Tante im Pfarrhaus läßt dir sagen, du sollest mit uns sogleich hinausfahren, sonst sei sie böse! Willst du?« Ich erwiderte »Ja, jetzt kann ich schon!« und setzte hinzu »Was fehlt dir denn eigentlich?« – »Ach, ich weiß es selbst nicht, ich bin immer müde und leide manchmal ein wenig; die anderen machen mehr daraus als ich selbst!«
Meine Mutter und der Schulmeister kamen zurück; neben den seltsamen und fremdartigen Paketen, die er mit einem verstohlenen Seufzer auf den Tisch legte, brachte er einige Geschenke für Anna mit, feine Kleiderstoffe, einen schönen großen Shawl und eine goldene Uhr, als ob er mit diesen kostbaren und auf die Dauer berechneten Sachen eine günstige Wendung des Geschickes erzwingen wollte. Als Anna darüber erschrak, sagte er, sie habe diese Dinge schon lange verdient und das bißchen Geld hätte gar keinen Wert für ihn, wenn er nicht ihr eine kleine Freude dadurch verschaffen könnte.
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