Einmal erblickte er im Hof ein Stückchen Zeitungspapier. Der Aufseher sah gerade in die entgegengesetzte Richtung. Andreas hob es auf und barg es in der Hand. Er war sehr neugierig. Es war, als würde in seiner Zelle ein Mensch erscheinen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht, ja wahrscheinlich enthielt dieses Stückchen Papier eine lustige oder eine merkwürdige Geschichte. Er zerknüllte es und hielt es zwischen zwei Fingern. So konnte er vorschriftsmäßig die Hände an der Hosennaht halten. Der Weg erschien ihm lang, die Stunde unendlich, der Hof grausam gewachsen. Endlich ertönte der Pfiff des Aufsehers. Andreas kam in die Zelle und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Dann entfaltete er das Papier, rückte die Bank zum Fenster und setzte sich. Er las:
»Personalien.
Als Verlobte empfehlen sich Fräulein Elsbeth Waldeck, die Tochter von Prof. Leopold Waldeck, und Dr. med. Edwin Aronowsky, Fräulein Hildegard Goldschmidt und Dr. jur. Siegfried Türkel, Fräulein Erna Walter und Herr Willi Reizenbaum. Der Bankdirektor Willibald Rowolsky und Frau Martha Maria, geb. Zadik, zeigen hocherfreut die Geburt eines Sohnes an. Frau Hedwig Kalischer, geb. Goldenring, betrauert das Hinscheiden ihres Gatten Leopold Kalischer, Mitinhaber der Firma König, Schrumm & Kalischer, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Gemeinschaft der Chemikalienhändler AG, der nach schwerem Leiden im 62. Lebensjahre gestorben ist. Herr Johann Kotz zeigt das Ableben seiner Gattin Frau Helene Kotz an. Bergwerksdirektor Bergassessor Harald Kreuth gibt Nachricht vom Tod seines Vaters Sigismund Johann Kreuth. Im 77. Lebensjahre verschied nach langem Leiden der Geheime Sanitätsrat Dr. med. Max Treitel.«
Andreas wendete das Papier und las auf der Rückseite:
»Wenn das zutrifft, so versteht man jetzt, warum in den letzten Tagen die Poincaré-Presse den Sachverständigenbericht so geflissentlich als pro-französisch gepriesen hat – um ihren Herrn zu decken. Daily Mail, aus Paris direkt unterrichtet, zählt in bestimmter Form–––«
Hier brach das Papier ab.
Andreas Pum versuchte, sich die Menschen vorzustellen, von deren Leben er die wichtigsten Abschnitte erfahren hatte. Fräulein Elsbeth Waldeck war blond und vornehm, die Tochter eines Professors, die Braut eines Arztes. Der Doktor Siegfried Türkel war vielleicht ein Rechtsanwalt, und es wäre nicht von Schaden, seine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht geriet man überhaupt nicht ins Gefängnis, wenn man mit dem Rechtsanwalt Türkel bekannt war. Ja, es war so: alle, deren Namen auf diesem Stückchen Zeitungspapier standen, mußten miteinander befreundet sein. Der Doktor Aronowsky behandelte die Frau Martha Maria, geborene Zadik, und der Bergassessor Harald Kreuth lieh sich Geld vom Bankdirektor Willibald Rowolsky. Diesen vertrat der Rechtsanwalt Türkel bei Gericht, und der Rechtsanwalt Türkel macht dem Herrn Johann Kotz einen Kondolenzbesuch. Die Namen sprangen selbständig aus den Zeilen und verbanden sich wechselweise. Da hüpfte der Sanitätsrat zum Assessor und dieser zum Rechtsanwalt. Die Namen waren lebendig. Sie nahmen menschliche Gestalten an. Andreas Pum blickte auf das bedruckte Papier wie in ein Zimmer, in dem sich alle diese Menschen befanden und herumgingen und miteinander sprachen. Dieses Bild bewegte ihn. Er stellte sich die Gesellschaft sehr glänzend vor. Es schien ihm, daß er hinter das Geheimnis der Welt gekommen war. Er glaubte zu wissen, daß er in der Zelle saß, weil er keinen von diesen Verlobten, Geborenen und Verstorbenen kannte. Weshalb stand es nicht gedruckt, daß Herr Andreas Pum, Lizenzinhaber, nach ungerechter Behandlung und ohne gehört zu werden, zu sechs Wochen verurteilt war?
Inhaltsverzeichnis
Das kränkte Andreas Pum. Andreas empfand die Beschämung zurückgesetzter Menschen, die sich auf eine Karriere vorbereitet hatten. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Ungerechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem gottesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebten Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebensosehr anspornte wie zur Wohltätigkeit? Daß ein Schutzmann auf ihn zuschritt und sich, respektvoll grüßend, wieder entfernte, weil er die Berechtigung Andreas Pums, die Nationalhymne zu spielen, anerkennen mußte?
Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte sich die Welt so schnell geändert haben?
Ach! sie hatte sich gar nicht geändert! Immer war sie so gewesen! Nur, wenn wir ganz besonderes Glück haben, werden wir nicht eingesperrt. Aber unser Schicksal ist es, Anstoß zu erregen und im Gestrüpp der willkürlich wuchernden Gesetze zu stolpern. Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheimfallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren. Die Regierung, wie wir sie jetzt erkannt haben, ist nicht mehr etwas Fernes, hoch über uns Befindliches. Sie hat alle irdischen Schwächen und keinen Kontakt mit Gott. Wir haben vor allem gesehen, daß sie durchaus nicht eine einheitliche Macht ist. Sie gliedert sich in Polizei und Gericht und wer weiß noch wie viele Ministerien. Der Kriegsminister mag jemandem eine Auszeichnung verleihen, und die Polizei sperrt ihn dennoch ein. Das Gericht mag ihn vorladen, und der Herr Kommissär tut es auch. So wurde mancher gottlos, ein Heide und ein Anarchist.
Manchmal dachte Andreas, daß es notwendig wäre, sich wieder vernehmen zu lassen. Und einmal, als der Direktor der Strafanstalt, wie er es jede Woche seiner Vorschrift gemäß tat, die Zelle inspizierte, erzählte ihm Andreas seine Geschichte. Der Direktor war ein sehr strenger Mann, aber er glaubte, daß der Bestand des Staates von dem Ausmaß der Gerechtigkeit abhänge, die in seinen Grenzen zur Anwendung gebracht werde. Er ließ ein Protokoll mit Andreas Pum aufnehmen und versprach, »die Sache in die Wege zu leiten«.
Von diesem Tage an erfüllte Andreas Pums Brust eine neue kleine Hoffnung. Zwar wußte er nicht, zu wem er zurückkehren sollte. Zwar hatte er das Wichtigste verloren, das ein Mensch in Freiheit nötig hat, um mit frohem Sinn und Erfolg verheißender Kraft ein neues Leben zu beginnen: den Glauben nämlich, die Heimat der Seele. Und auch sein Körper hatte keine Heimat mehr. Von Katharina wollte er sich scheiden lassen. Wahrscheinlich hatte sie selbst schon die Scheidungsklage eingereicht. Sollte er zu Willi zurückkehren? Ein Straßenbettler werden? Würde er auch die Lizenz wiederkriegen? War es nicht überhaupt besser, er blieb in dieser Zelle, freiwillig, ein Leben lang?
Eines Tages erwachte er sehr früh. Er wußte nicht, wie spät es war, es konnte jedenfalls noch nicht sechs sein. Denn um sechs wurden die Sträflinge geweckt. An der Stelle, an der sein Bein abgesägt war, spürte er Schmerzen. Es mußte sich irgendeine bedeutsame Änderung des Wetters zugetragen haben. Plötzlich wurden leise plinkende Tropfen vernehmbar. Es regnete offenbar.
Andreas stand auf. Er schnallte seine Krücke an und stellte sich unter das Fenster. Jetzt hörte er den Regen ganz deutlich. Wäre das Fenster nicht in so tiefer Mauerbuchtung eingefaßt gewesen, so hätte der Regen sogar an die Scheiben getrommelt. So klatschte nur von Zeit zu Zeit ein einzelner Tropfen gegen eine Gitterstange. Jedenfalls aber stand fest: es regnete.
Auf einmal erwuchs aus verschütteten Jahren ein Tag aus Andreas’ Jugend. So war er mitten in der Nacht aufgestanden, von Erwartung und Unruhe getrieben, und hatte festgestellt, daß die Macht des langen Winters gebrochen war. Damals hatte er den Morgen gar nicht erwarten können, und auch jetzt konnte er es kaum. Was erschütterte ihn denn eigentlich so? Jahr um Jahr war er gewohnt, den regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, und seit mehr als dreißig Jahren hatte auf ihn der erste Regen keinen Eindruck gemacht. Er mußte weit zurückgreifen in die verschollene Jugend.
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