Der vorhersehbare Ausgang des Spiels und die heutige Situation vieler deutscher Konzerne lässt sich mehr wirtschaftlich ausgedrückt wie folgt beschreiben: Viel mehr Alternativen, als auf die Regulierung und Zerschlagung der chinesischen und amerikanischen Mitspieler durch die Kartellbehörden oder auf technologische Innovationen und damit verbunden neue Anwendungen zu hoffen, scheinen ihnen aus heutiger Sicht nicht zu bleiben. Dies ist nun wirklich keine komfortable Situation. Allerdings eine, in die sie sich durch eigenverantwortliches, aber fehlgeleitetes Handeln während des verlorenen Jahrzehnts selbst hineinmanövriert haben.
Bei den meisten Strategieüberlegungen deutscher Konzerne um die Jahrtausendwende ging es vor allen Dingen darum, genau diese Gefahr abzuwenden. Man wollte nicht in der Situation enden, dass die Erreichung der Endkunden von Plattformen abhängig werden könnte, die von Dritten kontrolliert werden. So galt es beispielsweise bei Bertelsmann als strategisch unverzichtbar, den direkten Endkundenzugang zu sichern. Dieses Prinzip hatte bis Anfang 2000 Gültigkeit, insbesondere für digitale Plattformen, und war damals ein wichtiger Grund für die Kooperation mit Napster . Auch die New York Times ist dieser Strategie gefolgt, Anders als bei Bertelsmann haben allerdings ihre Gesellschafter die digitale Ausrichtung des gesamten Unternehmens bis heute gegen alle externen Widerstände beibehalten. Der heutige Erfolg der New York Times in der digitalen Welt, auch im Wettbewerb mit Google , ist der verdiente Erfolg dieser konsequenten Strategie und zugleich ein Lehrstück für alle deutschen Medienunternehmen.
In dem alten Geschäftsansatz „Club“ verkaufte Bertelsmann die Buchinhalte direkt an Club-Mitglieder. Die Denkweise, die mit diesem Geschäftsmodell verbunden ist, lässt sich ohne weiteres auf die digitale Welt übertragen. Ebenso wie in der alten Buchclub-Welt zahlten die AOL -Mitglieder auch in der digitalen Welt eine feste Monatsgebühr für die Nutzung ihres Services. Nichts anderes als genau dieses Geschäftsmodell betreiben heute Anbieter wie DAZN oder Netflix .
Ende März 2020 kommt beispielsweise Amazon Prime allein in Deutschland auf knapp 24 Millionen Mitglieder. Damit verfügt Amazon Prime in Deutschland nicht nur über einen größeren Mitgliederbestand als die Evangelische Kirche mit knapp 22 Millionen Mitgliedern, sondern ist auf diesem Wege an Bertelsmann vorbeigezogen, das vor noch 20 Jahren den Medienmarkt im Heimatland Deutschland beherrscht hatte.
Faktisch ist heute leider aufgrund der Verhaltensweisen der verantwortlichen Personen während des verlorenen Jahrzehnts genau das eingetreten, was strategisch als unbedingt zu vermeiden galt: Die deutschen Konzerne im Business-to-Consumer-Geschäft sind abhängig geworden von Gatekeepern, die sich, aus anderen Ländern kommend, nicht nur weltweit einen dominanten Marktanteil sichern konnten, sondern auch auf dem deutschen Markt. In einzelnen Teilbereichen haben sie zwischenzeitlich fast eine Monopolstellung erreichen können.
DEUTSCHLANDS VORZEIGEUNTERNEHMEN: VIER BEISPIELE DAFÜR, WIE MAN DEN ANSCHLUSS VERLIERT
Nach dem oben beschriebenen „Phänomen der zeitlichen Entkopplung zwischen Ursache und Wirkung“ zeichnet sich erst heute in aller Deutlichkeit ab, ob Großkonzerne mit ihren internationalen Wettbewerbern Schritt halten können.
Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, die Überlegung anzustellen, wo wir heute stehen würden, wenn die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik während des verlorenen Jahrzehnts sich anders verhalten hätten, wenn sie mit ausgewogenem Urteilsvermögen unterschieden hätten, was in der digitalen Welt gut und was auch problematisch oder schlecht ist. Wenn sie eben nicht zu Werke gegangen wären, als wollten sie die Geschehnisse von 1844 wiederholen. Damals verantworteten schlesische Weber den bis dahin ersten und bekanntesten Fall von „Maschinenstürmerei“ in Deutschland.
Die deutschen Wirtschaftsführer haben den einfachen Weg gewählt und die kurzfristige Strategie der „Ergebnisoptimierung“ einer langfristig ausgerichteten und mühevollen Digitalstrategie vorgezogen. Hierbei herrschte im Management häufig der Gedanke vor, dass die Kosten einer solchen Strategie und ihre Erträge zeitlich zu weit auseinanderfallen. Da die Kosten die eigene Amtszeit belasten, die Erlöse aber in den Verantwortungszeitraum des Nachfolgers fallen würden, wurde in den allermeisten Fällen die Entscheidung getroffen, dass dieser doch bitte auch die Kosten tragen soll.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem verlorenen Jahrzehnt für deutsche Vorzeigeunternehmen? Und sind diese Konsequenzen heute sichtbar, wenn man denn genauer hinsehen will?
Wir konzentrieren uns auf deutsche Konzerne mit weltweitem Renommee, die 2000, zu Beginn des verlorenen Jahrzehnts, weltweit führend in ihren Märkten tätig waren. Wurden möglicherweise damals in verschiedenen Branchen ähnliche strategische Fehler gemacht? Und belasten diese die Unternehmen und ihre Aktionäre heute und noch stärker in der Zukunft: durch verpasste Chancen, durch fehlendes Wachstum, durch nur noch begrenzte Wettbewerbsfähigkeit oder durch Opportunitätskosten? War einer der wesentlichen Gründe für die verpassten Chancen dieser Konzerne in der digitalen Welt die Tatsache, dass viele deutsche Konzernführer das Internet als eine „Zwischenepisode“ verstehen wollten?
Diesen Konzernen stellen wir die Strategie eines Wettbewerbers gegenüber, der während des verlorenen Jahrzehnts eine entgegengesetzte Strategie verfolgte: die Konzentration auf die konsequente Digitalisierung des Geschäftsmodells.
Metro und Amazon – Wie Jeff Bezos den Handelsriesen entzauberte
Bereits ab Mitte der 1990er-Jahre begannen sich Otto Beisheim, der legendäre Gründer der METRO , und Erwin Conradi, ein herausragender Manager, mit Internetgeschäften und den damit verbundenen Chancen für den Handel zu beschäftigen. Sie sahen im Internet ein großes Potenzial für unternehmerische Aktivitäten im Allgemeinen wie auch für die Geschäftsfelder der METRO im Speziellen, ähnlich wie Mitte der 90er-Jahre einem Reinhard Mohn das Potenzial des Internets für ein Medienunternehmen nicht lange erklärt werden musste.
Obgleich Beisheim dem Internet positiv gegenüberstand und mit der Scout -Gruppe das Zukunftsthema „Classified“ – vergleichbar mit den früheren Kleinanzeigen – erfolgreich besetzte, bestand im Management der METRO AG , deren Vorstandsvorsitz auf Hans-Joachim Körber übergegangen war (1996 als der Sprecher des Vorstands, 2001 als dessen Vorsitzender), eine skeptische Haltung gegenüber der neuen Technologie. Das Beispiel Beisheim zeigt, dass Modernität nicht zwangsläufig etwas mit dem Alter zu tun hat. Wenn Beisheim ein neues internetbasiertes Geschäftsmodell vorstellte, spotteten Teile des METRO -Managements: „Der Alte bringt uns schon wieder so ein Ding an.“
Das METRO -Management sah die Zukunft des Konzerns vor allen Dingen im Stammgeschäft Cash & Carry – dem Modell eines Abholmarkts für Firmen, Freiberufler, Gastronomie etc. – und wollte sich daher vornehmlich auf dessen Internationalisierung konzentrieren. Daneben warf die Beteiligung am stationären Elektronikhandel Media-Saturn zum damaligen Zeitpunkt hohe Gewinne ab.
Anfang 2000 zählte der METRO -Konzern mit einem Umsatz von knapp 47 Milliarden Euro zu den führenden Händlern weltweit. Er wurde in einem Atemzug mit Walmart und Carrefour genannt, seinen damals größten Wettbewerbern. Alles schien ausgelegt auf einen Dreikampf dieser Unternehmen mit amerikanischen, französischen und deutschen Wurzeln. Bis 2005 wuchs der weltweite METRO -Umsatz auf 55 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 erreichte er ca. 67 Milliarden bei mehr als 280.000 Mitarbeitern weltweit.5
Читать дальше