Mathias Wais
Ach Du liebe Anthroposophie
ISBN E-Book 978-3-95779-136-8
ISBN gedruckte Version 978-3-95779-131-3
Diesem E-Book liegt die Erste Auflage 2020 der gedruckten Ausgabe zugrunde.
© 2020 Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG Frankfurt am Main
Lektorat: Dr. Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main
Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH
Ach Du liebe Anthroposophie – mit dieser herzlichen Anrede beginnt Mathias Wais seine Briefe an die verehrte Freundin Anthroposophie – mal kritisch hinterfragend, mal anregend, aber immer verbindlich. Denn der humorvoll anmutende Rahmen eines direkten Austauschs mit dem Wesen Anthroposophie hat einen ernsten Hintergrund: die Sorge um den Zustand eines geistigen Impulses, der heute nach Erneuerung verlangt.
Ein besinnlich-heiterer Versuch, zur nötigen Entwicklung der Anthroposophie anzuregen, der weitere Diskussionen auslösen möchte.
Mathias Wais
geboren 1948, studierte Psychologie, Judaistik und Tibetologie in München, Tübingen und Haifa und schloss als Diplompsychologe ab. Eine psychoanalytische Ausbildung, Forschungen und die Auseinandersetzung mit der Anthroposophie folgten. Er leitete bis 2012 die Dortmunder Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und ist Autor zahlreicher Sachbücher.
Die vorliegenden Briefe verstehen sich als Gesprächsbeitrag. Rede und Gegenrede sind erwünscht und werden erbeten an den Verlag unter redaktion@info3.deoder direkt an den Autor unter m.wais@gmx.de
Liebe Anthroposophie,
Ganz ehrlich: Jetzt weiß ich nicht einmal, soll ich Dich siezen oder darf ich Sie duzen?
Vertraut und fremd zugleich. Respekt, vielleicht sogar Ehrfurcht empfand ich, als ich zum ersten Mal durch den Goetheanum-Bau in Dornach schritt, von dem gleichzeitig aber auch etwas Furchteinflößendes ausging. Mit einem Mal wechselte die Stimmung und ich fühlte mich wie zuhause, fühlte mich geradezu als ein Teil dessen, wofür der Bau steht. Anderen, mit denen ich später darüber sprach, ging es ähnlich.
Manchmal sehe ich Dich, liebe Anthroposophie, so wie ich Dich verstehe, wie aus weiter Ferne, manchmal sogar einige Galaxien entfernt. Manchmal nehme ich den Sympathisantenstatus ein, der zwischen fremd und vertraut liegt und den ja viele Leute einnehmen, weil sie einerseits ein diffuses Interesse haben, andererseits bloß nicht vereinnahmt werden wollen. Freunde von mir, die mich für einen Anthroposophen halten (ist das eine Ehre? Ein Missverständnis? Ich komme darauf zurück) sehen mich ähnlich: zum einen ganz normal, wie einen von Ihnen, zum anderen wie jemanden von einem anderen Stern, wenn wir uns zum Beispiel über Waldorfpädagogik oder Reinkarnation unterhalten. Ein Freund von mir, der damals mit mir im Goetheanum war, ein Sympathisant – siehe oben –, hielt es keine zwanzig Minuten in dem Gebäude aus. Er bekomme keine Luft, rief er noch und rannte raus. Fortan sah er mich nur noch mit Besorgnis an.
Also, wer oder was bist Du, liebe Anthroposophie – oh, jetzt hab’ ich Du geschrieben – überhaupt?
Liebe Anthroposophie,
meine Tante Alberta – sie ist eine eingefleischte Steiner-Anhängerin bis dahin, dass sie öfter ins Bistro um die Ecke geht und sich eine Bratwurst und einen Cognac bestellt, weil der junge Steiner das angeblich ganz gerne mal ebenso getan hat – meine Tante also hat mir verboten, Dir, liebe Anthroposophie, diese Briefe zu schreiben.
„Junge“, sagte sie, „was willst du damit? Dich zum Beurteiler unserer Weltanschauung aufschwingen? Stehst du draußen oder drinnen?“
„Weder noch, Tante. Ich habe nur ein paar Fragen.“ „Dann hast du das Werk Rudolf Steiners nicht verstanden. Es ist umfassend und erschöpfend.“ „Erschöpfend auf jeden Fall“, sagte ich und Tante Alberta lächelte ein wenig.
„Vielleicht sollte man Steiners Werk in jeder Generation neu verstehen oder, besser, ihn neu verstehen“, sinnierte ich und Tante Alberta sah mich fragend an.
„Manchmal stelle ich mir vor“, fuhr ich fort, „Steiner würde heute wiederkommen, und er würde zum Beispiel Reporter bei CNN sein und er würde die geistigen Hintergründe heutiger kriegerischer Auseinandersetzungen ergründen und im Fernsehen erklären. Er würde zum Beispiel die Probleme zwischen Israel und den Palästinensern geistig verstehen und erläutern können. Er würde bei einer Bratwurst und einem Cognac (das sagte ich nicht, um bei der Tante Interesse für meine Phantasien hervorzukitzeln) einer Abgeordneten des europäischen Parlaments beschreiben, worin die kulturelle Aufgabe Europas heute besteht. Er würde in Bangladesch einflussreiche Persönlichkeiten gewinnen, um mit ihnen zusammen dort ein ganz neues Wirtschaftssystem einzuführen, in dem niemand ausgebeutet wird. Er würde …“
„Gütiger Himmel“, unterbrach mich Tante Alberta, „wohin soll das führen?“
Das könnten wir im Moment doch einfach offenlassen.
Liebe Anthroposophie,
Steiner scheint der Auffassung gewesen zu sein, Du seist ein richtiges Wesen, ähnlich wie ein Engel.
Das war so seine Art: Kräfte, Strömungen, Tendenzen waren in seiner Anschauung immer gleich wesenhaft, hatten ein Aussehen, einen Namen natürlich auch. Er pflegte eine Art spirituellen Animismus.
Mit Verlaub, ein krasses Beispiel sei erwähnt: Ich las einmal eine Aufzeichnung, er habe Ahriman, den er als eine Personifizierung bösartiger Kräfte sah, herbeigezwungen, um ihm Modell zu sitzen für ein Porträt. Da musste ich doch schmunzeln und dachte: „Da sind die Gäule mit ihm durchgegangen.“ Aber so war er eben. Immer sehr konkret. Ich bin übrigens sicher, dass er sie so erlebt hat, wie er sie beschrieb, diese skurrile Ahriman-Sitzung.
Aber heißt das, dass diese kleine Ahriman-Episode Teil von Dir, der Anthroposophie, ist? Grundsätzlich gefragt: Was Steiner an der geistigen Welt erlebt hat, wie er es erlebt, wie er es geschaut hat und wie er es in Vorträgen und Schriften übermittelt hat – bist Du das? Oder gehören die Schriften und Vorträge seiner Anhänger auch zu Dir? Oder auch durch Steiner und erste Schüler impulsierte Unternehmungen wie heilpädagogische Einrichtungen, pharmazeutische und landwirtschaftliche Initiativen oder Forschungen, von denen manche erst nach seinem Tod entstanden sind?
Steiner hat am Goetheanum für die Anthroposophische Gesellschaft auch eine Hochschule gegründet. Wenn man dort Mitglied des inneren Zirkels ist, der „Klasse“, dann soll man „Repräsentant der Anthroposophie“ sein, so heißt es. Fühlst Du Dich wohl, bei all’ diesen Repräsentanten von Dir? Wie zu hören ist, ist dieser Anspruch manchem zu viel und zu unklar. Dann tritt er oder sie lieber wieder aus.
Wenn ich Steiners Vortragsmitschriften ansehe, dann nehme ich vieles dankbar entgegen, verstehe manches auch sofort und frage mich oft, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Anderes bleibt fremd wie etwa seine Schilderung der Erdenkreisläufe, große Erzählungen darüber, wie sich Erde und Kosmos entwickelt haben. Wieder anderes war mir nie von Bedeutung, zum Beispiel war die Frage, wie die Kabiren ausgesehen haben, für mich nie ein Thema. Hin und wieder hat Steiner sich wohl auch geirrt, jedenfalls nach heutigem Stand der Wissenschaften. Ein kleines Beispiel aus meinem eigenen frühen Arbeitsbereich, der Neuropsychologie: Laut Steiner hätten Rechtshänder das Sprachzentrum links, Linkshänder dagegen rechts, in der rechten Gehirnhälfte. Ersteres stimmt, Letzteres nicht. Fast alle Linkshänder haben zwei etwa gleichwertige, gleich starke Sprachzentren, eines in der linken Hemisphäre, eines in der rechten. (Weil die beiden Sprachzentren manchmal um den Zugang zur Sprech- beziehungsweise Schreibmotorik in Konkurrenz treten, kommt es zu Stottern und Legasthenie). Gewiss, dieser Irrtum ist eine Bagatelle, gemessen an Umfang und Tragweite des Gesamtwerkes. Und vielleicht meinte Steiner es gar nicht so anatomisch als vielmehr ätherisch, den Ätherleib betreffend.
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