Von der Gegenwart des an Voconius Romanus geschriebenen Briefes post Domitiani mortem 7 (1‒4a) richtet Plinius den Blick zurück auf die Herrschaftszeit Domitians (4b‒7); der Verlauf der hier geschilderten Handlung gleicht in seiner Struktur8 und aufgrund der vielen direkten Reden einem Drama in nuce . Durch die Formulierung reminiscebatur quam capitaliter ipsum me…lacessisset wird der Leser schon in einer Art Prolepse auf das Folgende eingestimmt.9 Zunächst schildert PliniusPlinius der JüngereEpist. 1.5 die Ausgangssituation im betreffenden Prozess (5: aderam…relegatus ) ‒ auf Bitte des Arulenus Rusticus vertrat Plinius die Arrionilla10 ‒ und leitet dann mit ecce (5) zum direkten Wortwechsel mit Regulus über, in dem sich Frage und Antwort dreimal wiederholen (5‒7: ecce tibi Regulus…rursus ille…tertio ille ).11 Plinius hebt das periculum hervor, dem er durch die Frage seines Kontrahenten über den verbannten Mettius Modestus12 ausgesetzt war (5), und zieht dadurch eine Parallele zwischen sich selbst und dem zuvor genannten Arulenus Rusticus (2: Rustici Aruleni periculum foverat ).13 Zweifellos stellt die schlagfertige Antwort des Plinius auf die dritte Frage seines Gegners die Klimax der Episode dar, da Regulus nun zum Verstummen gebracht wurde (7: conticuit ). Plinius hat den Spieß umgedreht und seinerseits die Loyalität des Regulus gegenüber dem Kaiser angezweifelt.14 Indem Plinius in dieser „Paradeepistel“15 seine altercatio mit Regulus im Zentumviralgericht so anschaulich wiedergibt, dürfte er Ciceros Brief 1,16CiceroAtt. 1.16 an Atticus imitieren,16 wo wir im Zusammenhang mit dem Bona-Dea-Skandal vom verbalen Schlagabtausch Ciceros mit Clodius während einer Senatssitzung lesen (10).17 Wie Plinius gelingt es auch Cicero, seinen Gegner durch seine Schlagfertigkeit verstummen zu lassen ( Att . 1,16,10: magnis clamoribus adflictus conticuit et concidit ), und der Leser ist somit animiert, Regulus mit Ciceros Erzfeind Clodius zu assoziieren. Plinius lässt die Gerichts-Episode mit einer conclusio enden, in der wir von den positiven Reaktionen der Zuhörer erfahren (7: me laus et gratulatio secuta est, quod nec…involveram ),18 schließt die Rückblende in die Zeit des letzten Flaviers ab und kehrt mit nunc (8) wieder in die Gegenwart zurück, in der sich Regulus angeblich vor Plinius’ Zorn fürchtet. So handelt dann auch der Rest des BriefesPlinius der JüngereEpist. 1.5 von weiteren Versuchen des Regulus, Plinius zu besänftigen (8‒14), der jedoch die Rückkehr des Iunius Mauricus aus der Verbannung abwarten will, um über seine Vorgangsweise gegen Regulus zu entscheiden (10; 15‒16).19 Wenngleich der Epistolograph im restlichen „Regulus-Zyklus“ der Briefsammlung20 mehrmals verschiedene negative Charaktereigenschaften seines Kontrahenten hervorhebt, ist in keinem der betreffenden Briefe von einer Anklage durch Plinius die Rede. Dass womöglich zu wenig Belastendes gegen Regulus vorlag, blendet Plinius gekonnt aus;21 stattdessen dient der Brief an Voconius Romanus dazu, am Anfang der Sammlung Plinius als positives Kontrastbild zu Figuren wie Regulus zu stilisieren.Plinius der JüngereEpist. 1.5
Die erste Szene vor Gericht in der Briefsammlung führt uns also in die Herrschaftszeit Domitians zurück und ist zudem äußerst anschaulich gestaltet, der Leser wird gleichsam zum Zuschauer der Auseinandersetzung zwischen Plinius und RegulusPlinius der JüngereEpist. 1.5 – diesen Kunstgriff der enargeia thematisiert der Epistolograph in anderen Prozessbeschreibungen sogar explizit, wie wir später noch sehen werden.22 Was die restlichen in Buch 1 geschilderten Szenen vor Gericht betrifft, fällt auf, dass sie mehrheitlich in der Regierungszeit Domitians zu verorten sind, bevor wir dann in Buch 2 von aufsehenerregenden Verhandlungen unter Kaiser Trajan lesen.
In der an Octavius Rufus23 gerichteten EpistelPlinius der JüngereEpist. 1.7 1,724 befindet sich Plinius, anders als in 1,5, außerhalb Roms (4: me circa idus Octobris spero Romae futurum ) und erklärt seinem Adressaten, dass er die Entscheidungsfreiheit habe, die Provinz Baetica in einem nicht näher beschriebenen Prozess contra unum hominem (2) weder zu vertreten noch anzuklagen.25 Der Brief eröffnet den Zyklus über verschiedene Repetundenprozesse, der sich über die Bücher 1‒7 erstreckt26 und in den folgenden Kapiteln noch näher analysiert werden soll. Seine Weigerung, gegen die Provinz Baetica aufzutreten, rechtfertigt Plinius damit, dass er sich die Provinz durch frühere Dienste verpflichtet habe (2): provinciam, quam tot officiis, tot laboribus, tot etiam periculis meis aliquando devinxerim . Besonders das dritte Glied innerhalb dieser tot -Anapher dürfte den Leser, der auch mit Epist . 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 vertraut ist, aufhorchen lassen: Als pericula waren in 1,5 die Gefahren, denen man sich unter dem Domitian-Regime als Vertreter der stoischen Opposition ausgesetzt sah, bezeichnet worden;27 eine lineare Lektüre des Briefkorpus macht deutlich, dass hier abermals auf die Herrschaftszeit Domitians angespielt wird. Wann genau und unter welchen Umständen sich Plinius für die Provinz Baetica eingesetzt hat, ist in 1,7,2 durch aliquando wohl mit Absicht nur vage angedeutet; in dem an Tacitus gerichteten Brief 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33 wird das Geschehen dann zeitlich konkreter verortet:28 Dort lesen wir von Plinius’ heldenhaftem Auftreten zusammen mit Herennius Senecio, durch das die Interessen der Provinz Baetica im Repetundenprozess29 gegen den Statthalter und Domitian-Günstling Baebius Massa im Jahr 93 n. Chr. vertreten werden sollten30 – ein Ereignis, von dem Plinius sich wünscht, Tacitus möge es in seine Historien aufnehmen (7,33,1: illis…inseri cupio ).
Octavius Rufus, der Adressat von 1,7, ist ähnlich wie TacitusPlinius der JüngereEpist. 1.7 Schriftsteller ( Epist . 1,7,5 und 2,10Plinius der JüngereEpist. 2.10 charakterisieren ihn als Dichter), und so passt es, dass Plinius seine Korrespondenz mit ihm durch Homer-Zitate anreichert. In seinem Schreiben an Plinius hatte Octavius seinen Freund anscheinend scherzhaft mit Zeus bei HomerHomerIl. 16.250 verglichen, der Bitten entweder gewähren oder abschlagen kann (1,7,1 = Il. 16,250): τῷ δ᾽ ἕτερονμὲν ἔδωκεπατήρ, ἕτερον δ᾽ ἀνένευσεν.31 Plinius greift das von Octavius gebrauchte Zitat auf und verleiht seiner Entscheidung im Zusammenhang mit dem Prozess um die Provinz Baetica somit episches Kolorit; dieses literarische Spiel wird im Verlauf des Briefes weitergeführt (1,7,4; vgl. Il . 1,528)HomerIl. 1.528: Ἦ καὶ κυανέῃσιν ἐπ' ὀφρύσι νεῦσε. Cur enim non usquequaque Homericis versibus agam tecum? 32 Indem Plinius seine Unterhaltung mit Octavius Rufus durch Homerzitate anreichert, evoziert er womöglich ein Schreiben Ciceros an Trebatius, wo wir ein ähnliches Spiel mit Zitaten aus der Medea Exul des EnniusEnniusMed. fr. 4.259‒61 Vahlen beobachten können ( Fam . 7,6,2:CiceroFam. 7.6.2 et quoniam Medeam coepi agere ).33 Während Cicero zu Trebatius sozusagen in der theatralen Rolle Medeas spricht ( Medeam agere ), verwendet Plinius das Verb agere im Sinne von „mit jemandem Umgang pflegen“, bzw. „kommunizieren“34 – die KorrespondenzPlinius der JüngereEpist. 1.1 über einen bevorstehenden Repetundenprozess gewinnt damit sozusagen eine epische Dimension.Plinius der JüngereEpist. 1.7
Sowohl das Thema des Prozessierens vor Gericht als auch das Einstreuen von Homer-Zitaten bilden eine Verbindung zur Epistel 1,18Plinius der JüngereEpist. 1.18 an Sueton. Plinius antwortet hier auf ein Schreiben Suetons, in dem dieser von einem schlechten Traum berichtet (1: scribis te perterritum somnio vereri ) und Plinius gebeten hat, eine bevorstehende Gerichtsverhandlung zu verschieben, da er den Traum als schlechtes Omen deutet.35 Plinius willigt ein, es zu versuchen, mit der Begründung καὶ γάρ τ' ὄναρ ἐκ Διός ἐστιν (1,18,1 = Il . 1,63)HomerIl. 1.63.36 Es folgt eine Passage, in der Plinius Sueton davon zu überzeugen versucht, dass man schlechte Träume auch positiv auslegen könne, so wie er selbst es einmal vor dem Prozess des Iunius Pastor37 gemacht habe: Plinius sei im Schlaf die Schwiegermutter38 erschienen und habe ihn angefleht, nicht vor Gericht aufzutreten (3). Plinius war damals noch ein ganz junger Mann, und der Fall hatte einiges an politischer Brisanz (3):
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