Stellen Sie sich vor, Sie besuchen eine Veranstaltung, einen Kongress oder ein Seminar. Ohne ein konkretes Ziel. Stattdessen denken Sie »Mal schauen, was es dort gibt; ich lasse mich überraschen« oder »Networking ist immer gut« oder »Nicht dass ich etwas Wichtiges verpasse«. Das wäre so, als würden Sie in eine Kiste mit 3000 Puzzleteilen greifen, in der Hoffnung, dass das herausgezogene Teil schon irgendwie ins Gesamtbild passt. Um ein Puzzle zusammenzusetzen, brauchen Sie eine Vorlage. Ein Gesamtbild, das Ihnen zeigt, wozu Sie das einzelne Puzzleteil brauchen. Doch wenn Sie ohne konkrete Output-Erwartung auf Ihre Veranstaltung gehen – wie wollen Sie dann sinnvollen Input bekommen? Schlimmstenfalls ist es zielloser Input, der Sie weiterhin dadurch beschäftigt hält, dass Sie Energie aufwenden, um zu überlegen, was Sie denn damit bloß machen könnten.
Selbst produzierter, nicht verwertbarer Input hat nämlich die fiese Eigenschaft, noch mehr nicht verwertbaren Input nach sich zu ziehen. Er sprießt wie Pilze aus dem Waldboden, nachdem es geregnet hat. Denn wenn Sie schon in eine Sache investiert haben, wollen Sie auch, dass etwas dabei herumkommt. Also werden Sie der verlorenen Zeit und dem schlechten Geld weitere Zeit und weiteres Geld nachwerfen – in der Hoffnung, dass dann ein vernünftiger Output herauskommt. Erfahrungsgemäß passiert das allerdings selten. Der Grund dafür liegt schlicht darin, dass all diesen Aktionen eine Grundidee fehlt. Eine Daseinsberechtigung. Eine Vorstellung davon, wozu sie existieren. Eine Richtung.
Der Tornado ist ein prima Betäubungsmittel.
Indem wir ständig ziellos unnötigen Input produzieren, tragen wir zu dem Tornado, der uns umtost, aktiv bei. Interessanterweise ist es in diesem Fall zunächst einfacher, den Tornado aufrechtzuerhalten, als ihn zu stoppen. Schließlich ist er ein prima Betäubungsmittel.
Bestes Beispiel ist mein Kumpel Jens. Jens hat ungefähr mein Alter, einen sehr guten Job und ist Single. Seine durchschnittliche Beziehungsdauer beträgt zwei Monate. Mit der hohen Frauenfluktuation in seinem Leben kommt er gut zurecht. Und der Akquiseaufwand ist aufs Äußerste optimiert. Um auf Jagd zu gehen, muss er sich nicht einmal physisch bewegen. Er erledigt das über eine der vielen Onlineplattformen. Die wiederum bedient er wie eine hocheffiziente Vertriebsmaschine. Hat er einmal eine gute Anmache formuliert, kann er sie kopieren und in Serienproduktion in allen attraktiven Damenprofilen hinterlassen. Dazu noch ein paar Photoshop-optimierte Fotos. Fertig. Mehr Arbeit erfordert das Dating nicht. Seitdem er jetzt zusätzlich eine der neuen Dating-Apps auf sein Handy geladen hat, muss er nicht einmal mehr schreiben. Er schaut sich nur noch die Bilder der Frauen an und wischt über den Screen: Nach rechts heißt daten, nach links heißt ablehnen.
Wenn Jens von seinen hochoptimierten Eroberungsstreifzügen erzählt, wirkt er auf den ersten Blick tatsächlich wie ein freier, wilder Cowboy. Hört man ihm aber länger zu, wird deutlich: Tief in seiner Seele sieht es düster und traurig aus. Aber er muss sich dieser Traurigkeit nicht stellen. Denn die hohe Aktivität lenkt ihn ab – dem Input-Virus sei Dank. Er versteckt seine innere Stimme vor sich selbst unter dem Deckmantel des Beschäftigtseins und fühlt sich wie ein Held, der im Tornado nicht untergeht.
Doch am Ende gewinnt der selbst angefeuerte Tornado immer über die Stimme, die sich im Inneren meldet und gehört werden will. Im Getöse, das der Tornado verursacht, hat sie keine Chance mehr, gehört zu werden. Es bleibt ihr auf Dauer nichts anderes übrig, als komplett zu verstummen.
Der Tornado um Sie herum tobt. Sie stehen mittendrin. Sie haben alles und nichts vor Augen. Von allen Seiten prasselt es ständig auf Sie ein und Sie können kaum noch Luft holen. Wie in einem Sandsturm. Die Sandkörner treffen Sie schmerzhaft, sie verstopfen Ihnen Nase und Ohren. Den Mund öffnen Sie besser nicht, sonst werden Sie das Knirschen zwischen den Zähnen nicht mehr los. Schließen Sie besser auch die Augen. Sehen können Sie sowieso nichts.
Was tun Nomaden in der Wüste, wenn sie vom Sandsturm überrascht werden? Ziehen sie unverdrossen weiter? Ganz bestimmt nicht. Die Gefahr wäre viel zu groß, in die falsche Richtung zu laufen und die Wasservorräte zu verschwenden. Die Nomaden suchen sich deshalb einen geschützten Platz und warten, bis der Sturm sich gelegt hat. Erst dann ziehen sie weiter.
Und was machen Sie? Sie ziehen trotz des Tornados weiter. Und zwar in einem Affenzahn. In welche Richtung? Na ja, mal in die eine, mal in die andere – wie es sich so ergibt. So genau können Sie die Richtung in dem ganzen Trubel ja auch nicht ausmachen.
Nein, verdursten werden Sie im alltäglichen Tornado nicht so schnell. Wasser haben Sie ja genug. Wenn Sie blind weiterziehen, verschwenden Sie etwas anderes, etwas viel Kostbareres, von dem Sie auch nur äußerst begrenzte Vorräte haben:
Sie verschwenden Ihre Zeit.
Richtung braucht Klarheit
Der Anzug
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Hochzeitstermin und alle Vorbereitungen bereits getroffen: die Papiere zusammengesucht, das Standesamt gebucht, das Restaurant gefunden, der Blumenschmuck ausgewählt, das Brautkleid geschneidert. Alle Freunde und Verwandten haben schon lange die liebevoll ausgewählten Einladungen vorliegen, fast alle haben zugesagt. Die Liste der Gäste ist lang .
Ich sitze auf der Kante unseres Doppelbetts, den Kopf in die Hände gestützt. Aus dem Kinderzimmer unserer schicken Wohnung dringt die Stimme meines Sohnes .
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt meine Freundin, als sie von nebenan hereinkommt. Ich räuspere mich, und doch ist meine Stimme krächzend, als ich sage: »Ich kann nicht … Ich habe keinen Anzug gekauft.« Sie schüttelt einen Moment ungläubig den Kopf und lacht. Doch beim Blick in mein Gesicht erstirbt ihr Lachen .
Einige Monate später. Wir haben die Hochzeit abgesagt. Meine Freundin ist mit unserem Sohn in eine andere Stadt gezogen, um den Schmerz mithilfe der Distanz zu betäuben .
Ich habe einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung. Die Wohnung, die ich zuvor mit meiner Freundin und unserem Kind hatte, will ich verlassen. Orte haben ein Gedächtnis … Doch ich weiß: Wenn ich mir jetzt eine neue Wohnung anschaue und umziehe, dann ist die Tür zu meiner Familie endgültig zugeschlagen. Auf dem Weg zum Auto durchdringt die Nässe des Kölner Schmuddelwetters meine Sneakers. Eigentlich sollte ich losfahren, stattdessen bin ich wie gelähmt. Ich starre auf das Lenkrad .
Plötzlich ist die Stimme da. Sie sagt mir, in welche Richtung ich gehen sollte.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze – vielleicht nur Sekunden, vielleicht Minuten. Doch plötzlich ist die Stimme da. Sie sagt mir, in welche Richtung ich gehen sollte. Und das ist nicht die, in die ich gerade renne .
Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe .
Ich greife zum Handy und suche mit bebenden Fingern den Kontakt. Der Verbindungsaufbau dauert quälend lange. Endlich das Klingeln. Sie hebt ab. Ich atme tief durch und sage mit klarer Stimme: »Darf ich wieder zu dir kommen?«
Ich habe durch mein Rumgeeiere so viel Zeit verschwendet. Weil ich nicht klar war. Und was mindestens genauso schlimm ist: Ich habe nicht nur meine Zeit verschwendet. Ich habe vor allem die meiner Frau und meines Sohnes verschwendet.
Meine Frau war die ganze Zeit klar. Sie kannte ihren Horizont. Sie wollte eine Familie. Vertrautheit, Stabilität, Freundschaft, gemeinsame Zeit, Tiefe. Der Haken an der Sache: Ich kannte meinen Horizont nicht. Irgendwie bin ich in diese Situation hineingeraten. Natürlich hatte ich Gefühle für meine Frau und meinen Sohn. Aber mein Verhalten zeigte das nicht. Ich fühlte mich wie im Nebel. Betäubt. Betäubt durch 14-Stunden-Tage im Büro, zu viele Geschäftsreisen, mindestens 60 000 km mit dem Auto im Jahr und mehr Nächte in Hotels als zu Hause im eigenen Bett.
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