Der Aufstieg der Nazis in den 1930er-Jahren hat auch innerhalb Ihrer Familie zu Spannungen geführt, denn Ihre Mutter war Schweizerin, Ihr Vater Deutscher. Die Gräben zwischen beiden Familien sollen anfangs sehr tief gewesen sein.
Es war so schlimm, dass die bevorstehende Heirat meiner Eltern von der Schweiz aus hintertrieben wurde. Mein Vater durfte meine Mutter nicht mehr treffen, durfte ihr nicht mehr schreiben. Aber meine Mutter hat Wege gefunden, dass es doch noch Kontakt geben konnte, ohne dass sie ihr Versprechen gebrochen hätte. Schlussendlich hat meine Mutter ihn geheiratet. Aber im Krieg war es für meine Mutter natürlich nicht leicht in Deutschland. Ein paar Hundert Kilometer weiter südlich, in der Schweiz, wäre sie in Sicherheit gewesen und es hätte ihr an kaum etwas gefehlt. Nach dem Krieg waren wir einmal im Kino, der Film hieß Marie-Louise . Es ging um ein Mädchen aus Frankreich, das im Krieg seine Heimat verlassen musste und in die Schweiz gebracht wurde. Dort im Kino sah ich zum ersten Mal in meinem Leben meine Mutter weinen. Sie hatte ihr Heimatland gesehen, die Natur, die Schweizer Fahne. Das hat sie sehr berührt.
Gab es in Ihrer Familie nach dem Krieg Schuldgefühle wegen des Unrechts der Nazizeit?
Nein, denn die Schuldigen waren die anderen. Das sage ich nicht einfach so. Meine Familie hat gegen die Nazis gekämpft. Sicherlich haben meine Verwandten hinterher auch gedacht, dass sie manchmal noch hätten mehr tun können. Aber da muss man auch bedenken: Dadurch wäre die Familie noch mehr in Lebensgefahr gebracht worden.
»Meine Eltern waren natürlich froh, dass der Krieg zu Ende war. Aber die Not war nicht vorbei. Es kam eine ökonomisch sehr schwere Zeit, in der wir wirtschaftlich auf der Kippe standen.«
Claus Hipps Eltern, Georg Hipp und Anny Hipp-Metzner, ließen sich anlässlich ihrer Silberhochzeit 1961 fotografieren. Die schwere Nachkriegszeit hatte das Unternehmen da schon überstanden
Erinnern Sie sich, dass im Krieg über die Nazis und den Widerstand gesprochen wurde?
Darüber wurde kaum gesprochen. Mir wurde eingetrichtert, in der Öffentlichkeit nicht über Privates zu reden. Meine Eltern hatten Angst, dass ich draußen etwas über ihre Haltung gegenüber den Nazis erzählen würde.
Und, hat es mit der Diskretion geklappt?
Es hat zumindest so gut funktioniert, dass niemand von uns im Konzentrationslager landete. Die Geheimnistuerei hatte ich auch wirklich sehr verinnerlicht. Nach dem Krieg haben wir in einem kleinen Haus am Firmengelände gewohnt. Irgendwann hat mich ein Mitarbeiter gefragt, was es denn bei uns zum Mittagessen gebe, und ich habe geantwortet: »Das musst du meinen Vater fragen.«
Mir wurde in der Nazizeit eingetrichtert, in der Öffentlichkeit nicht über Privates zu reden .
Ihr Onkel war Oberbürgermeister von Regensburg. Er hat aus seiner Abneigung gegenüber den Nazis keinen Hehl gemacht.
Ja, er hat sich gegen die Nazis starkgemacht, weshalb er neun Monate im Konzentrationslager Dachau verbracht hat. Er hatte Adolf Hitler in Regensburg Redeverbot erteilt. Dann haben sie ihn geholt.
So offen hat Ihr Vater nicht gegen die Nazis gekämpft.
Nein, er war in Opposition zu Hitler, aber nicht so offen. Viele haben so agiert. Zum Beispiel am Geburtstag von Adolf Hitler. Da mussten die Geschäfte mit Hitler-Darstellungen dekoriert werden, was nicht jedem gefallen hat. Ein Kunde von uns wurde von seinen Mitarbeitern dazu gedrängt, eine Gipsbüste von Hitler in sein Schaufenster zu stellen. Er sagte zu den Mitarbeitern: »Der Gipskopf kommt mir nicht ins Fenster!« Das wurde der NSDAP gemeldet und er musste sich dort rechtfertigen. Er erklärte den Nazis, er habe das nicht abschätzig gemeint, sondern einfach eine Büste aus Gips als nicht hochwertig genug empfunden. Die Partei hat ihm das offensichtlich abgekauft. Es war eben eine Diktatur, und manche Leute haben es verstanden, zwischen den Zeilen ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Nach dem Attentat auf Adolf Hitler soll Kardinal Michael von Faulhaber im Münchner Dom gebetet haben: »O Gott, halte deine schützende Hand über unseren Führer.« Für die Nazis klang das gut. Die Gläubigen aber kannten den ganzen Gebetstext: »Bewahre uns vor den Nachstellungen des Satans, halte deine schützende Hand über ihn.« Der Satz bezog sich also auf den Satan.
Viele deutsche Unternehmen haben in der Kriegszeit ihre Produktion umgestellt und kriegswichtige Güter hergestellt. Hat Hipp Nahrungsmittel für die Soldaten geliefert?
Wir haben hier ein Brot entwickelt, das eine besondere Eigenschaft hatte. Wenn man von einem Flugzeug Lebensmittel abwarf, dann wurde das Brot faktisch gefriergetrocknet. Denn dort oben herrschen Temperaturen von bis zu minus 50 Grad. Die Folge war, dass das Brot unten steinhart und trocken ankam. Das konnte man kaum noch essen. Uns ist es gelungen, ein Brot zu erfinden, bei dem das nicht passiert. Mein Vater sollte das für das Militär produzieren, aber er hat sich geweigert, denn er wollte das Unrecht nicht unterstützen. Wirtschaftlich wäre es natürlich sehr attraktiv gewesen. Viele Familienunternehmen haben für das Militär gearbeitet und entsprechend gut verdient. Es gab aber auch einige, die Rückgrat bewiesen.
»Mein Vater hat es immer gehasst, wenn ich in meinen Reitstiefeln zu Hause ankam. Es erinnerte ihn an die Uniformierten im Dritten Reich.«
Claus Hipp bei einem Reitturnier – mit der Pferdezucht verdiente er schon als Schüler Geld
Ich nehme an, die Erleichterung über das Ende des Naziterrors war groß in Ihrer Familie.
Sehr. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mit meiner Schwester und meinem Vater kurz nach dem Krieg durch die Stadt ging. Da begegnete uns der Direktor der Schule. Meine Schwester und ich sagten, wie es uns über Jahre eingetrichtert wurde, brav: »Heil Hitler, Herr Direktor!« Wir kannten ja nichts anderes. Da erklärte mein Vater: »Jetzt könnt ihr wieder ›Grüß Gott‹ sagen.« Mein Vater hat es auch immer gehasst, wenn ich später in meinen Reitstiefeln zu Hause ankam – es erinnerte ihn zu sehr an die Uniformierten im Dritten Reich.
Ihr Onkel war Bürgermeister, auch andere Verwandte hatten wichtige Ämter. Wie wichtig war Erfolg in Ihrer Familie?
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