»Dreimal in der Woche hatten wir für eine Stunde Schulunterricht. Die Kinder mussten ein Stück Holz oder ein Stück Kohle zum Heizen mitbringen.«
Claus Hipp, geboren 1938, hat die Bombenangriffe auf München im Zweiten Weltkrieg überlebt – nach dem Krieg gehörten Mangel und Flüchtlingselend zum Alltag
Wie hat das Zusammenleben mit den Fremden geklappt?
Die Lehrer haben wir teilweise sehr schlecht verstanden, weil wir eben doch einen ganz anderen Dialekt gewöhnt waren. Wir mussten langsam sprechen, dann ging es. Nur dreimal in der Woche hatten wir für eine Stunde Schulunterricht. Das Schulhaus war im Krieg in ein Lazarett umgewandelt worden, deshalb hat der Unterricht in Wirtshäusern stattgefunden. Die Kinder mussten ein Stück Holz oder ein Stück Kohle zum Heizen mitbringen. Das meiste haben wir zu Hause gelernt, es gab immer Hausaufgaben. Unsere Lehrer waren vielfach aus dem deutschen Osten. Von der bayerischen Lebensart und Kultur hatten sie kaum eine Ahnung. Unser Unterricht bestand dann mehr aus Riesengebirge und Rübezahl als aus bayerischer Geschichte. Aber es hat uns nicht geschadet.
Für Ihre Eltern war es sicher keine leichte Zeit nach dem Krieg.
Sie waren natürlich froh, dass der Krieg zu Ende war. Aber die Not war nicht vorbei. Es kam eine ökonomisch sehr schwere Zeit, in der wir wirtschaftlich wirklich sehr auf der Kippe standen.
Wie kam das?
Als sich die Währungsumstellung abzeichnete und die D-Mark eingeführt werden sollte, hat der Handel mit der alten Währung riesige Warenmengen eingekauft und die Lager gefüllt. Als dann die neue Währung da war, wurden die Läden mit der gelagerten Ware geflutet. Mein Vater, der ein sehr ehrbarer Kaufmann war, musste feststellen, dass die Ware, die vom Handel auf Vorrat gekauft worden war, nach einiger Zeit nicht mehr in Ordnung war. Das war alles voller Klumpen. Er wollte aber, dass seine Produkte die besten sind. Deshalb hat er gesagt: Wir müssen die alte Ware umtauschen und neue liefern. Sie können sich sicher vorstellen, dass das nur eine Zeit lang gut gegangen ist. Produzieren und liefern ohne neue Erlöse, das hält kein Unternehmen lange aus.
Stand eine Insolvenz im Raum?
Das hätte passieren können. Die Mitarbeiter haben das natürlich mitbekommen. Die Führungskräfte sind zu meinem Vater gegangen und haben gesagt: Wenn Sie uns nur das geben, was wir zum Leben brauchen, um unsere Familien über Wasser zu halten, dann sind wir damit erst einmal zufrieden. Das andere können Sie uns vielleicht später einmal nachzahlen.
»Nach Kriegsende begegnete uns der Schuldirektor. Meine Schwester und ich sagten brav: ›Heil Hitler, Herr Direktor!‹ Wir kannten ja nichts anderes. Da sagte mein Vater: ›Jetzt könnt ihr wieder ›Grüß Gott‹ sagen.‹«
Claus Hipp (stehend) mit seinen Geschwistern. Der Firmen-Lkw – ein umgebauter Militärwagen – transportiert eine neue Glocke für die Pfaffenhofener Kirche
Und, hat das geholfen?
Kurzfristig sorgte es für Erleichterung. Und dann hat sich plötzlich die korrekte Einstellung meines Vaters ausgezahlt. Die amerikanischen Besatzer haben für die sogenannten Schulspeisungen Lebensmittel geschickt: Zucker, Mehl, Milchpulver, Kakaopulver. Das sollte vermischt werden, sodass in der Schule nur noch Wasser hinzugefügt werden musste. Diese Aufträge wurden an örtliche Unternehmen vergeben. Da wurde dann ausgehandelt, dass ein gewisser Schwund durch den Mischprozess stattfinden darf. Manche haben sieben Prozent ausgehandelt, aber mein Vater hat gesagt: Ein Prozent ist genug. Dadurch erhielt er so viele Aufträge, dass wir wirtschaftlich erst mal über den Berg waren.
Ihre erste Lektion über den ehrbaren Kaufmann?
Ja. Die anderen Unternehmen konnten sich zwar einiges von den Lebensmitteln der Amerikaner abzweigen, aber das hat ihnen nur kurzfristig geholfen. Auf lange Sicht standen wir besser da.
Was war eigentlich noch übrig von dem Unternehmen Hipp nach dem Krieg? Waren die Mitarbeiter noch da, die Maschinen, die Gebäude?
An unserem Stammsitz in Pfaffenhofen hatten wir keine Bombenschäden. Aber in München. Dort war unsere Verwaltung ansässig. Wegen des Schadens mussten wir sie nach Pfaffenhofen verlegen. Aber nach zwei Wochen ist alles normal gelaufen.
(Das Handy klingelt. Er telefoniert kurz.)
Sie gehen konsequent an Ihr Handy. Wird Ihnen das manchmal nicht ein bisschen viel?
Nein, denn nicht jeder hat die Nummer. Wer anruft, mit dem spreche ich auch. Für mich ist es ein gutes Gefühl, erreichbar zu sein. Das beruhigt mich. Wenn ich nicht erreichbar bin, dann denke ich, es könnte dieses und jenes passiert sein. Natürlich prasseln jeden Tag auch viele nutzlose Informationen auf uns ein, was eine Belastung ist.
Es war jetzt unvermeidlich zu lauschen. Das muss ein Anruf von der Schweizer Verwandtschaft gewesen sein. Sie haben direkt auf Schwyzerdütsch umgeschaltet.
Ja, der Anruf kam aus der Schweiz.
Ihre Mutter war Schweizerin, Ihr Vater Deutscher. Aufgewachsen sind Sie aber vor allem in Deutschland. Was bedeutet Ihnen die Schweiz?
Mein Lebensmittelpunkt war die meiste Zeit in Deutschland. Aber ich habe schon auch Heimatgefühle für die Schweiz. Nach dem frühen Tod meines Vaters ist meine Mutter in die Schweiz gegangen. Die Hälfte meiner Verwandtschaft lebt dort. Also das ist schon auch meine Heimat.
Wie haben Sie die amerikanischen Besatzer wahrgenommen? Ihre Familie war gegen die Nazis. Waren die Amerikaner die Guten, die Deutschen die Bösen?
Die Amerikaner waren die Retter. Aber man hat schon auch einige unschöne Dinge über sie gehört. Sie sollen recht ungeniert und brutal mit den Leuten umgegangen seien. In München gab es zum Beispiel die Familie Böhmler, die ein großes Möbelhaus hatte. Ihre Villa ist im Krieg nicht zerstört worden, also sind die Amerikaner dort reingegangen und haben die Böhmlers rausgeschmissen. Sie mussten dann in unser beschädigtes Haus ziehen, das in der gleichen Straße war. Die Böhmlers hatten eine sehr schöne Einrichtung in ihrer Villa. Was haben die Amerikaner gemacht? Sie haben die Türfüllungen rausgeschnitten, damit ihre Hunde vom einen Zimmer in das andere gehen konnten. Vielfach waren die Amerikaner echte Banausen und hatten überhaupt kein Gespür für Kultur. Darunter leiden sie manchmal noch heute …
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