Claus J Duisberg
Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990
Saga
Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2006, 2020 Claus J Duisberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726264821
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Meiner Frau Christiane,
die mit mir das geteilte Deutschland und
das Glück der Wiedervereinigung erfahren hat.
VORBEMERKUNG DES VERFASSERS
Die vorliegende Darstellung erhebt nicht den Anspruch, eine Geschichte der deutschen Wiedervereinigung zu sein. Auch wenn versucht wurde, den allgemeinen Gang der Ereignisse deutlich zu machen, sind es doch in erster Linie persönliche Erinnerungen, Eindrücke und Erfahrungen aus den Jahren um 1989 und 1990. Als Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt war ich damals an den innerdeutschen Verhandlungen und vielen internen Gesprächen unmittelbar beteiligt und ab Oktober 1990 als Leiter der Dienststelle des Auswärtigen Amtes in Berlin, dann außerdem als Beauftragter der Bundesregierung für den Aufenthalt und Abzug der russischen Truppen aus Deutschland auch mit den Folgen der Einheit befaßt. Meine Erinnerungen beziehen sich daher vor allem auf die innenpolitischen Aspekte des Geschehens, während die überaus wichtigen, in vieler Weise entscheidenden außenpolitischen Vorgänge, an denen ich selbst nicht unmittelbar oder nur am Rande teilgenommen habe, lediglich gestreift werden konnten. Meine amtlichen Aufzeichnungen und Vermerke sowie weitere Akten, die mir seinerzeit zugänglich waren, sind bereits in der 1998 unter dem Titel »Deutsche Einheit« erschienenen Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes veröffentlicht worden. Auf sie wurde jeweils Bezug genommen. Weitere Veröffentlichungen sind dagegen weitestgehend unberücksichtigt geblieben; eine umfassende wissenschaftliche Erörterung hätte den Rahmen persönlicher Erinnerungen gesprengt. Vielleicht aber kann dieses Buch als Beitrag zu anderen wissenschaftlichen Arbeiten über die Wiedervereinigung Deutschlands dienlich sein.
1. KAPITEL
VORABEND DER KRISE
Zeichen an der Wand
Am 19. August 1989 erklärte der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR, Professor Otto Reinhold, in einem Beitrag für Radio DDR, daß die DDR nur als sozialistischer Staat lebensfähig sei. Anders als die übrigen sozialistischen Länder, deren Staatlichkeit nicht in erster Linie von ihrer gesellschaftlichen Ordnung abhänge, sei für die DDR die Bewahrung ihrer sozialistischen Identität lebenswichtig. »Sie«, so Reinhold, »ist nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich keine.« Angesichts der Wandlungen in der »Welt des Sozialismus« warnte Reinhold vor allen Tendenzen, die DDR in irgendeine Form bürgerlicher Ordnung zu drängen, und forderte stattdessen eine Stärkung der sozialistischen Ordnung im Innern bei gleichzeitig verschärfter Systemauseinandersetzung nach außen. An die westlichen Staaten appellierte Reinhold, im eigenen Interesse der sozialistischen Entwicklung der DDR zum Erfolg zu verhelfen, weil nur mit der fortdauernden Existenz beider deutscher Staaten der Status quo in Europa erhalten werden könne 1 .
Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften war die ideologische Denkschule der SED und Reinhold einer ihrer Vordenker. Zwei fahre zuvor hatte er mit Vertretern der Grundwertekommission der SPD ein gemeinsames Papier »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« 2 ausgehandelt, in dem die SED von der SPD als gleichwertiger Partner anerkannt wurde, aber ihrerseits zugestehen mußte, daß über den Unterschied der Systeme eine offene Diskussion auf beiden Seiten geführt werden sollte. Als unter Berufung auf das Papier eine solche Diskussion in Intellektuellenkreisen der DDR tatsächlich auf breiter Front einsetzte, distanzierte sich die Parteiführung, und es oblag wieder Reinhold, diesen Rückzug öffentlich darzustellen und zu rechtfertigen.
In seinen Ausführungen am 19. August umriß Reinhold sehr präzise die grundlegende Problematik des zweiten deutschen Staates. Sie waren zugleich ein Notsignal. Inhalt und Art der Veröffentlichung ließen erkennen, daß es sich nicht nur um eine der üblichen Handreichungen zur Agitation handelte, sondern daß der Aufruf auch an die Führung selbst gerichtet war. Reinhold war viel zu klug und kannte die Verhältnisse auf beiden Seiten Deutschlands zu genau, um nicht zu wissen, daß die DDR im Wettbewerb der Systeme auf die Dauer nicht bestehen konnte. Vor dem Hintergrund der von dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, angestoßenen Reformdiskussion in allen Staaten des sogenannten »Sozialistischen Lagers« und einem wachsenden Druck auf Veränderungen auch in der DDR selbst sah er den zweiten deutschen Staat jetzt in einer existentiellen Krise, ohne freilich zu deren Überwindung anderes anbieten zu können als eine intensivere Fortsetzung des bisherigen Kurses. Letztlich war es das Eingeständnis des Scheiterns, das er vergeblich zu beschwören versuchte.
Schon Ende Mai hatte mir ein enger Mitarbeiter von Reinhold, Professor Rolf Reissig, am Rande einer Tagung des Aspen-Instituts in Berlin erklärt, der Kern aller Probleme einschließlich des wirtschaftlichen Notstandes sei die fehlende Bereitschaft der Menschen in der DDR, sich mit ihrem Staat zu identifizieren; alle Reformen aber, die diesem Mangel abhelfen könnten, gefährdeten die Stabilität des Systems. Deutlicher konnte man kaum sagen, daß die Deutsche Demokratische Republik innerlich am Ende war und nur noch durch das Korsett der autoritären Staatsordnung zusammengehalten wurde.
Innerdeutsche Beziehungen
Knapp zwei Jahre zuvor war der »Generalsekretär der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR«, wie Erich Honecker stets in ermüdender Ausführlichkeit tituliert wurde, zu einem offiziellen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, war als Staatsoberhaupt vom Bundeskanzler mit militärischen Ehren empfangen worden, mit dem Bundespräsidenten und führenden Vertretern von Politik und Wirtschaft zusammengetroffen und von nicht wenigen umworben worden. Dieser Besuch war der äußerliche Höhepunkt der DDR gewesen. Die DDR-Führung hatte lange auf ihn hingearbeitet. Neben wirtschaftlicher Unterstützung versprach sie sich davon vor allem eine politische Aufwertung. Der protokollarische Rahmen spielte deshalb für sie eine entscheidende Rolle. Dafür war die DDR bereit, auch Zugeständnisse im Bereich der innerdeutschen Kontakte, vor allem im Reiseverkehr zu machen. Wolfgang Schäuble, damals Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, war entschlossen, auf diesen Handel einzugehen.
Entscheidungen in der Deutschlandpolitik und ihre Durchführung waren spätestens seit 1985 Sache des Bundeskanzleramtes. Das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen war zwar an sich federführend, tatsächlich lag die Zuständigkeit aber im Bundeskanzleramt 3 . Schäuble harte – bei aller Konzilianz und Behutsamkeit im Umgang mit seiner Ministerkollegin Dorothee Wilms – das Ruder in diesem Bereich fest in die Hand genommen, so daß dem Innerdeutschen Ministerium, abgesehen von der Zuständigkeit für die Lösung humanitärer Einzelfälle, nicht viel mehr blieb als die Verbreitung gesamtdeutscher Rhetorik und die Verteilung von Geld.
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