Während Rentner aus der DDR schon seit längerem relativ frei in den Westen reisen durften und davon – sofern dort Verwandte oder Freunde für ihren Unterhalt sorgten – auch mit jährlich etwa 1,5 Mio. Besuchen reichlich Gebrauch machten, blieb die Zahl der Besuche von Personen unterhalb des Rentenalters, die nur in sogenannten dringenden Familienangelegenheiten reisen durften, ziemlich konstant auf 40 000 bis höchstens 60 000 im Jahr beschränkt. Auf Drängen der Bundesregierung stieg die Zahl dann jedoch 1986 zunächst auf 244 000, 1987 auf 622 000 und 1988 auf 790 000 Besuche. Zusammengenommen waren in diesen drei Jahren demnach schätzungsweise rund sechs Millionen Menschen aus der DDR, davon etwa ein Drittel unterhalb des Rentenalters, ein- oder mehrmals zu Besuch in Westdeutschland oder West-Berlin.
Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf das Bewußtsein bleiben. Die unmittelbaren Erfahrungen im Westen, nicht zuletzt auch im Umgang mit Behörden, ließen die Systemunterschiede nur allzu deutlich hervortreten; sie stärkten die Bereitschaft zu Kritik und Widerspruch nach Rückkehr in die Heimat. Zugleich wurde das Gefühl für die Zusammengehörigkeit der Menschen in beiden Teilen Deutschlands neu belebt. Insofern trug gerade der Honecker-Besuch letztlich nicht wenig zu den sich anbahnenden Veränderungen in der DDR bei und bestätigte damit die Richtigkeit der zuweilen als allzu pragmatisch gescholtenen Deutschlandpolitik der Bundesregierung.
Kaum etwas anderes stand so sehr im Mittelpunkt der Wünsche der Menschen in der DDR wie die Reisefreiheit. Die Kritik an den Verhältnissen entzündete sich fast immer an dem Verbot von Reisen in den Westen; und vielfach, auch bei uns, entstand der Eindruck, das Leben in der DDR könnte erträglich werden, wenn wenigstens auf diesem Gebiet etwas mehr Freiheit gegeben würde.
Über die Jahre war die Stimmung in der Bevölkerung kontinuierlich gesunken, ohne daß sich dafür immer konkrete Gründe ausmachen ließen. Objektiv hatte sich die Lage nicht einmal verschlechtert, war in einzelnen Bereichen sogar besser geworden. Das System war zwar unverändert totalitär und auf Unterdrückung individueller Freiheiten gegründet, auch war das Netz der Überwachung und Bespitzelung durch die allgegenwärtige Staatssicherheit mit den Jahren immer dichter geworden; rein äußerlich ging das Regime aber vielfach behutsamer vor, seine Machtäußerungen waren geregelter und setzten etwas mehr auf indirekten Zwang als auf offene Unterdrückung.
Wenngleich an der Grenze weiterhin auf Flüchtlinge scharf geschossen wurde, Regimekritiker unnachsichtig verfolgt und alle, die in das Räderwerk gerieten, mit rücksichtsloser Brutalität zermahlen wurden, waren im Alltag reine Willkürakte seltener, zumindest weniger offensichtlich geworden; die staatlichen Organe zeigten sich vielmehr im allgemeinen um eine barsche Korrektheit im Umgang mit den Bürgern bemüht. Die Versorgung mit Konsumgütern war zwar nach wie vor durch ständigen Mangel gekennzeichnet, insgesamt war das Niveau jedoch besser und das Angebot – wenn man es zu finden wußte – vielfältiger geworden. Mit den erweiterten Reisemöglichkeiten wurde schließlich auch der Bewegungsraum für den einzelnen etwas größer. Dennoch wuchs die Unzufriedenheit. Soweit es reale Verbesserungen gab, genügten sie doch nie den ihnen immer vorauseilenden Erwartungen.
Andererseits war es auch nicht so, daß die Menschen ständig die Faust in der Tasche ballten. Wer – und das war die große Mehrzahl – sich in den Bedingungen, wie sie nun einmal waren, eingerichtet hatte, sich anzupassen verstand und vermied aufzufallen, konnte in der DDR erträglich und sogar mit manchen Annehmlichkeiten leben. Selbst Dissidenten wurden – wenn sie nicht offen aufbegehrten oder besonders prominent waren – in ihrem privaten Rückzugsbereich zwar überwacht, doch im übrigen weitgehend unbehelligt gelassen. Das Auskommen war bescheiden, aber sicher. Initiative war nicht gefragt, und Anstrengungen konnte man mit etwas Geschick ausweichen. Das Leben verlief insgesamt ohne große Höhen, dafür war es vorhersehbar; es war – wie man sagte – gekennzeichnet durch ein dreifaches »L«: es war l angsamer, l eichter und l angweiliger als andernorts.
Nichtsdestoweniger gab es einen sich allmählich anstauenden Unmut, der oft aus trivialen Anlässen des Alltagslebens gespeist wurde und sich mit der wachsenden Überzeugung verband, daß in der DDR im kleinen wie im großen nichts wirklich funktionieren könne. Fand man in den siebziger Jahren noch überall Menschen, die sich ehrlich für den Erfolg des Systems einsetzten und sich betrübten, daß dieses ihnen dabei so viele Hindernisse in den Weg legte, so überwogen zum Ende der achtziger Jahre Resignation und Gleichgültigkeit, nicht selten gepaart mit zynischem Opportunismus.
Zugleich ging auch in der DDR die Saat der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) auf. Der mit der Schlußakte von Helsinki 1975 begonnene Prozeß führte in allen Staaten des Warschauer Paktes, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, zu einer systemkritischen Diskussion, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. In der DDR standen dabei die Zusicherungen zur Reisefreiheit und Familienzusammenführung im Vordergrund, später aber zunehmend auch Forderungen nach Meinungs- und Informationsfreiheit, schließlich ganz generell nach politischer Freiheit. Daneben und teilweise damit verbunden bildeten sich vornehmlich unter dem Dach der Evangelischen Kirche Friedensgruppen, die mit der Losung »Schwerter zu Pflugscharen« für allgemeine Abrüstung im Osten wie – wohlgemerkt – auch im Westen eintraten.
Auf diese Stimmung traf die von einigen Staaten des Warschauer Paktes ausgehende und von der Sowjetunion unter Gorbatschow aufgenommene Reformdiskussion, verbunden mit eigener Anschauung und neuartigen Erfahrungen aus Besuchen im Westen. Das Gefühl, daß politisch und wirtschaftlich durchgreifende Reformen auch in der DDR erforderlich seien, wurde zunächst von einigen am Rande der evangelischen Kirche angesiedelten Friedens- und Menschenrechtsgruppen artikuliert, verbreitete sich dann aber und reichte bis in Parteikreise hinein, ohne daß freilich über Inhalt und Richtung solcher Reformen mehr als diffuse Vorstellungen bestanden. Es wuchs jedoch – und das war das Entscheidende für die weitere Entwicklung – die Bereitschaft, sich auch öffentlich zu einer kritischen Haltung und zu Reformforderungen zu bekennen.
Das zeigte sich zum ersten Mal eindrucksvoll am 17. Januar 1988 bei der jährlichen Demonstration zum Todestag von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Mit Spruchbändern, auf denen das Wort von Rosa Luxemburg »Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden« stand, forderten Mitglieder regimekritischer Gruppen in subtiler Weise eine Reform des Systems. Dieses reagierte zunächst mit der herkömmlichen Methode: Die Staatssicherheit griff ein und verhaftete zahlreiche Demonstranten, gegen die massive strafrechtliche Anklagen erhoben wurden. Das Aufsehen, das die Vorgänge in der westlichen Öffentlichkeit erregten, und die dort ausgelösten Proteste bewogen die DDR-Führung dann jedoch zum Einlenken. Dabei half die evangelische Kirche durch eine in der Sache feste, in der Form behutsame Vermittlung, Brücken zu bauen, über die dem Staat ein Zurückweichen ermöglicht wurde.
Die Krise endete schließlich damit, daß alle Festgenommenen aus der Haft entlassen und außer Verfolgung gesetzt und einige oppositionelle Leitfiguren – zum Teil gegen ihren Willen – nach Westdeutschland oder vorübergehend ins Ausland abgeschoben wurden. Maßgeblich dürfte der Wunsch gewesen sein, das mühsam und nicht zuletzt mit dem Honecker-Besuch erworbene internationale Ansehen der DDR nicht weiter zu beschädigen, aber wohl auch die Sorge, allein mit repressiven Maßnahmen der Entwicklung nicht mehr beikommen zu können.
Читать дальше