Vor diesem Hintergrund plädierte ich im Januar 1989 dafür, die Ständige Vertretung für das Publikum zu schließen, einmal um das aktuelle Problem zu begrenzen, zum anderen um die DDR, der ein solcher Schritt wegen des damit verbundenen auch internationalen Aufsehens – die Wiener KSZE-Folgekonferenz befand sich in ihrer Schlußphase – äußerst unangenehm sein mußte, zum Handeln zu bewegen. Die Minister Schäuble und Frau Wilms scheuten aber vor einer derart spektakulären Maßnahme zurück. Die DDR lenkte dann auch ohnedies ein; und in der Folgezeit gelang es in Gesprächen zwischen Walter Priesnitz, dem Staatssekretär im Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen, und Rechtsanwalt Vogel sogar, die Tarife im Rahmen der besonderen Bemühungen beträchtlich zu reduzieren.
Die wirkliche Krise kam dann aber im August 1989. Ich war am Montag, dem 7. August, nach einem Urlaub zum ersten Mal wieder im Büro und hoffte auf noch einige beschauliche Tage, weil der Bundeskanzler wie üblich zum Urlaub am Wolfgangsee war, der Chef des Bundeskanzleramts – seit April 1989 Bundesminister Rudolf Seiters – ebenfalls in Österreich Ferien machte und das Bundeskanzleramt wie jedes Jahr um diese Zeit in sommerlicher Ruhe vor sich hin dämmerte. Kurz nach Dienstbeginn aber rief mich der stellvertretende Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Jürgen Staab, an und unterrichtete mich, daß sich seit dem Ende der vorangegangenen Woche eine wachsende Zahl Ausreisewilliger in der Vertretung aufhielten, die ohne positive Entscheidung über ihre Ausreiseanträge das Gebäude nicht wieder verlassen wollten; inzwischen seien es bereits über 80 Personen, darunter Familien mit Kindern, und stündlich kämen weitere hinzu.
Ich bat Staab, bei der bisherigen Linie zu bleiben und allen eindrücklich vorzustellen, daß die Entscheidung über die Ausreise allein bei der DDR liege und die Bundesregierung darauf keinen Einfluß habe; andererseits dürfe aber niemand am Zugang gehindert oder gar gewaltsam wieder hinausgewiesen werden. Allerdings solle das Haus wie jeden Tag nach Ende der Besuchszeit für den Publikumsverkehr geschlossen werden. Ich erfuhr dann, daß sich auch in unseren Botschaften in Budapest und Prag Gruppen von Ausreisewilligen festgesetzt hatten. Priesnitz hatte sich bereits um Kontakte mit Vogel bemüht, aber noch keine Reaktion erhalten. Im Laufe des Tages teilte Vogel mit, er habe nur ein eingeschränktes Mandat, das heißt, er könne den Leuten beim Verlassen der Vertretungen nur Straffreiheit zusichern, nicht dagegen auch eine wohlwollende Prüfung ihrer Ausreiseanträge.
Ich versuchte, Minister Seiters an seinem Ferienort zu erreichen, was erst nach einiger Zeit gelang, und schlug ihm vor, die Ständige Vertretung zu schließen, weil der Zustrom eher wachsen als abnehmen werde und wir bereits jetzt größere Probleme mit der Unterbringung und Versorgung der Menschen hätten. Nach weiteren Telefonaten zwischen Bonn, Berlin und Österreich konnte ich schließlich am Abend Staab die Weisung geben, die Ständige Vertretung am nächsten Tag für den Publikumsverkehr nicht zu öffnen und bis auf weiteres geschlossen zu halten. Die Zahl unserer Gäste hatte sich inzwischen auf 130 erhöht; einer kletterte später noch über die Mauer, so daß es 131 wurden.
Am 8. August erläuterten Priesnitz und ich die Entscheidung vor der Bundespressekonferenz. Unsere Linie war, die Angelegenheit nicht zu dramatisieren, um der DDR ein eventuelles Einlenken nicht zu erschweren und die Fortsetzung der bisherigen, auf praktische Zusammenarbeit gerichteten Politik nicht in Frage zu stellen. Die Information über die Situation in der Vertretung wurde auf die notwendigen Fakten beschränkt; eine Sensationsberichterstattung sollte möglichst vermieden werden. Ich wies deshalb auch die Mitarbeiter der Ständigen Vertretung zu strikter Enthaltsamkeit gegenüber der Presse an; und in der Folge legten wir unter Einbeziehung der Zufluchtsuchenden noch Regeln fest, nach denen ihr Kontakt mit der Außenwelt auf die sachlich erforderliche Kommunikation mit Angehörigen beschränkt wurde. Für Minister Seiters bereitete ich eine am 9. August veröffentlichte Erklärung vor, in der er an die Ausreisewilligen der DDR appellierte, nicht den Weg über die Vertretungen der Bundesrepublik zu gehen, weil dadurch »mehr Probleme geschaffen als gelöst« würden; dabei konnte auch darauf hingewiesen werden, daß 1989 bis Ende Juli bereits 4643 Bürger der DDR legal in die Bundesrepublik übersiedeln durften.
Selbst wollte ich so bald wie möglich nach Berlin fahren, zumal der neue Leiter der Ständigen Vertretung, Staatssekretär Franz Bertele, ebenfalls gerade auf Urlaub war, incommunicado in Norwegen. Außerdem erschien es mir dringlich, daß ein Vertreter der Bundesregierung auf politischer Ebene mit der DDR, dann aber vor allem auch mit den Menschen in der Ständigen Vertretung sprach. In der DDR war ebenfalls Urlaubszeit, so daß ich erst am 11. August einen Termin bei dem stellvertretenden Außenminister Kurt Nier erhielt; der zuständige Abteilungsleiter beim Zentralkomitee der SED, Gunter Rettner, ließ sich verleugnen. Ich hielt es für richtig, mit einer persönlichen Botschaft des Bundeskanzlers für Honecker nach Berlin zu reisen, in der einerseits unsere Bereitschaft zur Fortsetzung der bisherigen Politik betont, andererseits aber die dringliche Aufforderung an die DDR gerichtet wurde, auf politischer Ebene zu einer Lösung des Problems beizutragen. Der außenpolitische Berater des Bundeskanzlers, Ministerialdirektor Horst Teltschik, der vertretungsweise das Bundeskanzleramt leitete und in ständigem Kontakt mit dem Kanzler stand, übermittelte ihm meinen Vorschlag. Der Kanzler war einverstanden, legte aber aufgrund von Erfahrungen in anderen Fällen Wert darauf, die DDR zugleich zu warnen, Lösungen nicht auf parteipolitischen Wegen, das heißt über die SPD, ins Auge zu fassen.
Nier war im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR für Westeuropa zuständig, ein trockener, hölzerner Mann, nicht unfreundlich, aber wenig beweglich. Das Gespräch mit ihm verlief im Ton verbindlich, in der Sache hart. Im Auftrag des Bundeskanzlers erklärte ich, daß die Menschen rechtmäßig in unsere Vertretungen gekommen seien und wir sie auf keinen Fall gewaltsam daraus vertreiben würden. Wir wollten zwar wie bisher auf sie einzuwirken suchen, die Vertretungen freiwillig zu verlassen; nach Lage der Dinge bestünde jedoch keine Aussicht, daß sie das aufgrund einer Zusage lediglich von Straffreiheit tun würden. Eine Lösung werde deshalb nicht möglich sein, ohne daß die DDR dazu einen Beitrag leiste. Ich betonte, daß wir unverändert zu einer vernünftigen Weiterentwicklung der Beziehungen bereit seien und in keiner Weise Druck auf die DDR ausüben wollten; der Chef des Bundeskanzleramts könne die notwendigen Gespräche unter Wahrung voller Diskretion mit einem dafür von der DDR-Regierung Beauftragten führen.
Nier hielt dagegen, es sei allein Sache der Bundesregierung, die Menschen, die sich widerrechtlich in unseren Vertretungen aufhielten, wieder loszuwerden. Unsere Vertretungen seien nicht befugt, für DDR-Bürger tätig zu werden. Die DDR erwarte, daß ihre Souveränität respektiert werde und die Bundesregierung das Nötige tue, damit die DDR-Bürger unsere Vertretungen verließen. Die DDR könne es nicht hinnehmen, daß durch Aufnahme in unsere Vertretungen die Hoffnung erweckt würde, eine Sonderregelung für die Ausreise zu erreichen 13 . Dies war der entscheidende Satz: Die DDR wollte offensichtlich versuchen, den Sonderweg endgültig zu schließen.
Im Anschluß an das Gespräch ging ich mit Bertele, der im Radio von den Ereignissen gehört und seinen Urlaub sofort abgebrochen hatte, in die Ständige Vertretung zu den dort Wartenden. Sie kampierten seit nun fast einer Woche im euphemistisch so genannten »Gartenhaus«, einem hinter das Hauptgebäude in den Hof gesetzten Zweckbau für Vorträge und gesellschaftliche Veranstaltungen. Über hundert Gesichter waren auf mich gerichtet, und die Luft war dicht mit ihren Erwartungen. Ich hatte nichts zu geben, mußte im Gegenteil auf Ernüchterung hinwirken, weil niemand wissen konnte, ob und wann sich die DDR zu einer Lösung bereit finden würde. Ich sagte daher, daß die Bundesregierung alles in ihren Kräften Stehende für die Zufluchtsuchenden tun würde, daß dies aber nicht viel sei, weil die Entscheidung über die Ausreise letztlich bei der DDR liege und diese sich sehr hart stelle. Daher sollten sich alle überlegen, ob sie nicht doch die Vertretung wieder verlassen wollten. Sie könnten sicher sein, daß wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten weiter um sie kümmern würden.
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