Norbert Stöbe: RITA flies at 5 p.m.
Pedro Bolivar drückte seine Nase an der Glasscheibe platt und atmete mit offenem Mund. Im großen Sitzungssaal des Kongressgebäudes wimmelte es von Aliens. Es gab große und kleine, bunte und graue, schwabblige und feste. Sie tröteten und zirpten, grunzten, kieksten und blökten. Trotz der dämpfenden Wirkung der Scheibe war ihr Geschnatter ohrenbetäubend laut. Staunend schaute er dem Spektakel zu. In der dritten Reihe diskutierte ein blauer Alien mit Trichtermund mit seinem vierschrötigen halslosen Nachbarn. Seine ovalen Augen waren so groß wie Papayas. Eingerahmt waren sie von dicken Wimpernhärchen, die in strudelnder Bewegung begriffen waren. Auf den ersten Blick klatschten die beiden einander permanent ab. Es sah lustig aus, doch es war ihre Art zu streiten. Angefeuert wurden sie von einer hinter ihnen sitzenden Fröschin mit grünem Fell und winzigen Brüsten, die von feucht glänzenden Schalen bedeckt waren. Auf dem Rücken trug sie einen flachen Tornister, von dem ein Schlauch nach vorn führte. Hin und wieder nahm sie einen Zug aus dem Mundstück und pustete sattgelben Dampf auf die beiden Kontrahenten.
»Gib’s ihm, Alter!«, murmelte Pedro. »Zeig dem Penner, wo der Hammer hängt!« Aus irgendeinem Grund hatte er Partei für den Blauen mit dem Trichtermund ergriffen. Dann wurde er abgelenkt: Eine Art Wurm mit vier Beinen und zwei Armen kroch aufs Podium. Am Rednerpult richtete er sich auf und fuhr einen halben Meter weit den Kopf aus. »Aawrkud«, wurde hinter ihm angezeigt, »Vertreter von Pbsmiftz.« Er stützte die Arme aufs Pult, schaute auf seinen Text nieder und …
»Verflucht noch mal, zieh die verdammte Brille aus!«, sagte jemand hinter Pedro. Er riss sich die AR-Brille vom Kopf und fuhr herum. Vor ihm stand Luiz Sardo, der Vorarbeiter des Reinigungstrupps. Sein Gesicht war so braun wie Tabaksaft, sein Grinsen schadenfroh. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass die Dinger bei der Arbeit verboten sind?«, blaffte Luiz. »Und nach der Arbeit will ich deine Pisse haben. Heute ist für dich Drogentest angesagt, und wenn der Detektor anschlägt, weißt du, wo du dir deine Papiere abholen kannst.«
»Si, Señor«, sagte Pedro mit niedergeschlagenem Blick. »Kommt nicht wieder vor, Señor.« Er klappte die Brille zusammen und schob sie in die Tasche. Luiz mochte es, wenn ihm die Leute in den Arsch krochen. »Und der Test? Ich meine, muss der sein, Señor? Bitte?«
»Wir werden seh’n«, sagte Luiz und entfernte sich mit selbstgefälligem Lächeln.
Pedro blickte ihm hinterher. Er war auf den Job angewiesen, denn er wohnte außerhalb der Kuppel, und seine Klimaanlage war defekt. Eine neue konnte er sich nicht leisten, außerdem war der Strom kaum noch bezahlbar. Und die Cooler-Pillen, mit denen die meisten sich gegen die Schwüle wappneten, mochte er nicht. Sie stellten irgendetwas mit einem an. Er bevorzugte die Estrellas Azules, die es an jeder Straßenecke zu kaufen gab. Die Estrellas und die Brille halfen ihm, die demütigende Arbeit und das Arschloch Luiz zu überstehen.
Zähneknirschend setzte er einen selbsthaftenden Reinigungsbot auf die Fensterscheibe und schob dann seinen Versorgungswagen weiter durch die Flure. Hin und wieder näherte sich ein Bot, und je nachdem leerte er den Schmutzbehälter, füllte Reinigungsflüssigkeiten und Wasser nach oder tauschte den leeren Akku gegen einen vollen aus. Er war ein Botgehilfe, und das schmeckte ihm gar nicht. Nach einer Weile, als er sicher war, dass Luiz sich nicht in der Nähe befand, setzte er wieder die Brille auf.
Zweitausendsechshundert Delegierte hatten sich in Brasilia versammelt, der von Oscar Niemeyer erbauten, einst so futuristischen Stadt, die jetzt gegen den Verfall ankämpfte und nur noch auf eine Zukunft verwies, die niemals eingetroffen war. Im Schutz der größten Kuppel der Welt, die gestützt wurde von hundertdreiundfünfzig gigantischen Säulen mit integrierten Kühlaggregaten und Luftumwälzern, berieten die Vertreter von hundertsechzehn Ländern über das Vorgehen gegen die Aufheizung der Atmosphäre. Im Gegensatz zu Niemeyers Vision von einer sozialistischen Gesellschaft war diese seit Langem bittere Realität. Der globale Temperaturanstieg seit Beginn der Industrialisierung betrug zwei Komma neun Grad Celsius. Alle Abkommen und Versprechen, den Anstieg zu begrenzen, waren gebrochen worden. Immer mehr Hitzezonen wurden für unbewohnbar erklärt, und entsprechend hitzig entwickelte sich die Debatte.
Auf eine Vertreterin der USA folgte Jorge Ramos, ein Sprecher der Solarier. Er präsentierte Sonnenfotos einer chilenischen, von Brasilien finanzierten Sternwarte. Zu sehen waren gigantische Flecken, gewaltige Protuberanzen und violett leuchtende Teilchenströme. Unter den Buhrufen eines großen Teils des Publikums wiederholte er stoisch die Standardbehauptung der Solarier, die Erderwärmung sei ausschließlich auf Anomalien der Sonne zurückzuführen und somit menschlicher Einflussnahme grundsätzlich entzogen.
»Fake Facts!«, wurde gerufen. Einige Wissenschaftler schwenkten Diagramme, die angeblich belegten, dass die Sonnenaktivität im Rahmen des Üblichen verlaufe. Eine Sprecherin des Grünen Blocks stürmte aufs Podium. Mit ihren dunkelblonden Zöpfen wirkte sie wie eine Wiedergängerin der aus der Öffentlichkeit verschwundenen Greta Thunberg, die insbesondere bei den europäischen Grünen Heiligenstatus genoss. Emilia Lacone, ihre derzeitige Reinkarnation, versetzte Ruiz Ramon geschickt einen Rempler und nahm seinen Platz am Mikrofon ein. »Schamlose Lügen!«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. »Jedes Kind kann erkennen, dass die Fotos Fälschungen sind! Aber der Klimawandel ist menschengemacht und eine unmittelbare Folge der steigenden CO 2-Konzentration – auch das weiß jedes Kind! Hätten nicht notorische Faktenverdreher wie Jorge Ramos und korrupte Politiker in aller Welt aus eigennützigen Motiven heraus die notwendigen Maßnahmen zur Herstellung eines klimaneutralen Wirtschaftens torpediert, wäre es jetzt vielleicht noch fünf vor zwölf. Aber es ist schon zwanzig nach zwölf, ach was, der Uhrzeiger steht kurz vor eins …«
Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Antinatalisten, die sich mit Wirtschaftssteuerung und technologischer Erneuerung nicht lange aufhielten. Für sie war nicht die Wirtschaftsweise, sondern der wirtschaftende Mensch die Wurzel allen Klimaübels, dem sie durch die konsequente Verweigerung der Fortpflanzung beizukommen gedachten. Seit dreißig Jahren hofften ihre Gegner, ihr Aussterben, eigentlich die logische Folge ihrer menschheitsverachtenden Ideologie, werde die politische Auseinandersetzung mit ihnen irgendwann überflüssig machen, doch seltsamerweise war der Nachschub an Anhängern scheinbar unerschöpflich. Speziell die jungen Leute fanden an der kruden Fortpflanzungsverweigerung der Antinatalisten Gefallen. Straff organisiert in diversen NGOs, stellten sie einen nicht unerheblichen Anteil der Delegierten. Enthusiasmiert durch die vernichtende Zeitansage der Grünen-Vertreterin, sprangen sie auf, kletterten auf ihre Sitze und skandierten: »Yes Love – no Children! Yes Love – no Children!« Die meisten sahen nicht nur aus wie Kinder – sie waren welche. Ihre älteren Sitznachbarn bemühten sich, sie, wenn nicht auf den Boden der Tatsachen, so doch auf den Boden der Kongresshalle hinunterzuziehen, doch die Kinder wehrten sich verbissen. Die Saalwache marschierte auf. Aus dem Off tönte die Stimme der Kongress-AI: »Die Sitzung ist unterbrochen!«, säuselte sie. »Bitte räumen Sie den Saal!«
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