Fangjie Li klopfte aufs Mikrofon und rückte den dicken schwarzen Rahmen seiner Brille zurecht. »Guten Abend!«, sagte er mit feierlicher Miene. »Heute ist ein historischer Tag, nicht mehr und nicht weniger als ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, all jenen zu danken, die am Gelingen beteiligt waren, insbesondere dem chinesischen Volk und dessen hervorragenden Wissenschaftlern und Technikern, aber auch der Europäischen Union, Neuseeland, Australien und Mexiko sowie zahlreichen Einzelpersonen und Stiftungen in aller Welt.« Er nahm die Brille ab und putzte umständlich die Gläser. Auf der riesigen Wandprojektion war zu erkennen, dass ihm ein Timer ins Sichtfeld eingeblendet wurde.
»In wenigen Sekunden«, fuhr er fort, »wenn es hier siebzehn Uhr wird, ist es in China fünf Uhr morgens. Dann gehen in der Provinz Shaanxi zwei Sonnen auf: die große Sonne, die wir alle kennen, und eine kleine Sonne, die von Menschenhand gezündet wird. Dann nimmt das Fusionskraftwerk Goldener Drache seine Arbeit auf.«
Hinter ihm wurde ein Livestream projiziert. Der Reaktorblock war quadratisch und sattgelb bemalt. Seine gewaltigen Dimensionen wurden sichtbar im Vergleich zu den winzigen Menschen, die sich davor versammelt hatten. Noch größer aber waren die sechzehn Trichter, die in einem halben Kilometer Abstand kreisförmig um den Reaktor angeordnet waren. Das waren keine Kühltürme, und das wurde auch den Delegierten im Saal rasch klar. Ihr Raunen schwoll zu einem lauten Summen an.
»Was Sie da sehen, meine Damen und Herren, sind CO 2-Kollektoren, die ersten ihrer Art. Die angesaugte Luft wird komprimiert, das CO 2abgetrennt. Fünfzig Prozent der vom Reaktor produzierten Energie wird für die Umwandlung des schädlichen Treibhausgases in eine Art Öl verwendet. Das Öl können wir deponieren, um den CO 2-Gehalt der Luft zu mindern, oder es als regenerativen Rohstoff verwenden.«
Der chinesische Ministerpräsident wurde gezeigt. Seine Hand schwebte über einem roten Knopf.
»Es ist fünf Uhr nachmittags in Brasilien, oder five p.m., wie unsere amerikanischen Freunde sagen«, fuhr Fangjie Li fort. »Heute, in diesem Moment, beginnt eine neue Zeit. Die Temperaturen werden wieder sinken, und unsere Kinder werden leben.«
Die Hand des Ministerpräsidenten wanderte zum roten Knopf. Die Delegierten schnellten von ihren Sitzen hoch und applaudierten. Sie trampelten auf den Boden, lachten und schrien. Nicht wenige weinten.
Maylin hob den Kopf. Sie lag da, wohin der Bärenmann sie geschleudert hatte. Ihr brummte der Schädel, doch sie konnte ihre Gliedmaßen bewegen. Anscheinend hatte sie keine schweren Verletzungen davongetragen.
Hong lag ein paar Meter weiter. Sein Hemd war aufgerissen, seine Brust rot gefärbt. Er rührte sich nicht. Sie richtete sich in eine sitzende Haltung auf und schaute sich um. Die beiden Pandas waren verschwunden. Kenshou war nicht zu sehen. War er vom Felsen gestürzt? Sie musste nach ihm sehen und sich vergewissern, ob er noch lebte, doch sie schaffte es nicht, den Blick von den gewaltigen Trichtern abzuwenden, die den Goldenen Drachen umringten. Kenshou hatte ihr erklärt, was es damit auf sich hatte. Ein Schwirren ging von ihnen aus, das mit einem tiefen Summton unterlegt war. Der Sog war so stark, dass die tief hängenden Wolken Strudel bildeten und hineingezogen wurden. Es war ein großartiger Anblick, der bei ihr ein naives Staunen auslöste.
Verwirrt von ihren Empfindungen, betrachtete sie den gelben Kubus in der Mitte der Anlage. Hubschrauber schwebten in der Luft, Drohnen kreisten. Aus der Entfernung sah das Reaktorgebäude klein und harmlos aus. Sie dachte an das Millionen Grad heiße Sonnenfeuer, das darin brannte. Vielleicht war es ja doch ein guter Tag. Die beiden Pandas lebten, und dort unten wurde die Atmosphäre vom CO 2gereinigt. Die Leistung der sechzehn Trichter war vermutlich nur ein Klacks im globalen Maßstab, doch es war immerhin ein Anfang.
Auf einmal empfand sie Stolz auf die Leistung der Wissenschaftler und Ingenieure, die den Goldenen Drachen erdacht und erbaut hatte. Und ein klein wenig stolz war sie auch auf sich selbst.
Sie nahm den Rucksack ab, holte die kleine Waffe heraus, die der Fremde ihr gegeben hatte, und schleuderte sie in den Abgrund. Sie war froh, dass sie sie nicht hatte einsetzen müssen. Und sie war glücklich, dass sie die Pandas in freier Wildbahn gesehen hatte und dass sie ihr Studium würde fortsetzen können.
Als sie wieder zum Kraftwerk sah, lösten sich drei Hubschrauber aus dem Geschwader und flogen geradewegs in ihre Richtung. Sie wunderte sich, dass sie erst jetzt kamen, aber vielleicht war der GPS-Mikrochip, den der Fremde ihr unter die Haut injiziert hatte, ja defekt oder sendete so schwach, dass man Mühe gehabt hatte, das Signal auszuwerten. Sie winkte, um sich den Maschinen, die sie abholen kamen, bemerkbar zu machen. Dann waren sie da, der Windschwall ließ ihr Haar flattern. Das Stativ kippte um, der Marschflugkörper fiel zu Boden und rollte über den Rand der Klippe. Als er in die Tiefe stürzte, blitzte es an der Unterseite des mittleren Helikopters auf. Etwas raste ihr entgegen. Es war …
Eine Sonne explodierte und fraß sie auf.
Greta und die streikenden Schüler, purzelnde Temperaturrekorde und der brennende Amazonas – 2019 war das Jahr des Klimas. Was eine schnelle Lösung der Klimakrise angeht, bin ich skeptisch. Deutschlands Anteil an der globalen CO 2-Produktion beträgt 2,2 Prozent, deshalb wird unser Klima-Impact, egal was wir tun oder nicht mehr tun, eher gering ausfallen. Die größten CO 2-Emittenten sind die USA, China und Indien. Und die Trumps und Bolsonaros sind überall. Je deutlicher die Kosten hervortreten, desto stärker dürften auch die Widerstände der Betroffenen werden – die Wut der Gelbwesten in Frankreich hat sich an einer Erhöhung der Benzinsteuer um ein paar Cent entzündet.
Ich fürchte, dass alle globalen Klima-Vereinbarungen gebrochen werden. Trotzdem bin ich hoffnungsvoll. In Frankreich wird bald der Fusionsreaktor ITER den Betrieb aufnehmen. Die nächste Generation soll dann bereits Strom liefern. China plant, ab etwa 2050 mit der Kernfusion Energie zu gewinnen. Damit würde sich die Möglichkeit eröffnen, CO 2der Atmosphäre zu entnehmen und als Rohstoff zu verwenden. Das Verfahren wird bereits erprobt, ist derzeit allerdings für den Einsatz in großem Maßstab viel zu teuer. Das könnte sich durch die Kernfusion ändern, denn damit stünde eine schier unerschöpfliche Energiequelle bereit. Davon handelt meine kleine Story.
Mark Derys 1996 erschienenes Buch Escape Velocity: Cyberculture at the End of the Century ist die bislang wohl gründlichste kritische Einführung in die sich immer weiter verzweigenden sozialen, künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Aktivitäten, die von der Computer- und Netzwerktechnik angeregt wurden. In einem Abschnitt schildert er die eigenartigen synkretischen Religionen, die in den Randbereichen der Cyberkultur wuchern und jenseitige Heilsversprechen, die früher mit Begriffen wie Paradies, Himmel oder Nirvana bezeichnet wurden, in einer zeitgemäßen Umdeutung in den Cyberspace projiziert haben. Eine ähnliche Mythisierung der Technik steht auch im Mittelpunkt von Markus Müllers Geschichte. Ihre Heldin ist Angehörige eines Ordens, der technische Fertigkeiten als spirituelle Erleuchtung verehrt, und wird bei einem ihrer kniffligsten Support-Aufträge mit einer ganz neuen Variante des »Geistes in der Maschine« konfrontiert. – Das Magazin Publishers Weekly führt seit Jahren eine regelmäßig aktualisierte Liste der »Writers to Watch«. Auf unserer internen Liste der »Writers to Watch«, die wir für Nova im Auge behalten, könnte Markus Müller, der mit der folgenden Story sein Debüt in unserem Magazin feiert, künftig eine wichtige Rolle spielen – ein eleganter und einfallsreicher Erzähler, der uns auf Anhieb überzeugt hat.
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