Holm Tetens
Gott denken
Ein Versuch über rationale Theologie
Reclam
7. Ausgabe
2015 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960690-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019295-5
www.reclam.de
»Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, dass die letzten Hoffnungen auf eine übermenschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich.«
Max Horkheimer1
1. Auf Gott hoffen – Wie vernünftig ist das?
»Persönlich glaube ich, dass zumindest die Hoffnung auf Gott rational gerechtfertigt werden kann.«2 Mit diesem Satz endet ein überaus scharfsinniges Buch, das den Titel trägt »Die Unverzichtbarkeit natürlicher Theologie«. Der Satz beschreibt exakt, worum es im vorliegenden Buch gehen soll. Wir wollen eine komplexe Argumentation entfalten, wonach es im Vergleich mit der heute vorherrschenden naturalistischen Sicht auf die Welt und unser Leben keineswegs unvernünftig ist, auf Gott zu hoffen. Der Vergleich mit dem Naturalismus ist entscheidend, ist doch der Naturalismus heutzutage der gewichtigste Widersacher eines Gottesglaubens. Deshalb tut man gut daran, Argumente zugunsten des Theismus wesentlich dialektisch anzulegen: Schwierigkeiten des Naturalismus sind in Stärken des Theismus umzumünzen.
Dieses Buch offeriert einen Versuch über rationale Theologie. Theologie verdient nur dann rational genannt zu werden, vermag sie die »Sache mit Gott«3 mit vernünftigen Überlegungen auszufechten. Was heißt in diesem Kontext »vernünftig«? Das müssen und können wir nicht grundsätzlich beantworten. Wir nennen lediglich einige wichtige Bedingungen, denen die nachfolgenden Überlegungen gerecht zu werden versuchen. Würden wir sie verfehlen, ließe das sofort legitime Zweifel an der Vernünftigkeit unseres Gedankengangs aufkeimen.
Erstens unterstellen wir, dass die Erfahrungswelt im wesentlichen genauso ist, wie die Wissenschaften sie beschreiben und erklären. Das auferlegt einer rationalen Theologie, mit ihren Thesen und Argumenten keinen anerkannten Ergebnissen der Wissenschaften zu widersprechen. Zweitens erteilen wir jedem Wunderglauben eine Absage.4 In der uns zugänglichen Erfahrungswelt ereignet sich nichts, was sich nur so erklären lässt, dass anerkannte Naturgesetze oder andere strukturelle Gesetzmäßigkeiten der Erfahrungswelt einmalig außer Kraft gesetzt sind. Rationale Theologie sollte deshalb nicht mit der These liebäugeln, dass Gott in dieser empirischen Welt Wunder wirkt und sich durch sie offenbart. Drittens gelten für die rationale Theologie von vornherein alle fundamentalen Prinzipien vernünftigen Denkens. Demnach kann zum Beispiel selbst Gott nicht Junggesellen verheiratet machen und der rationale Theologe hat den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu respektieren und gültig hergeleitete Widersprüche sollten ihn veranlassen, mindestens eine Prämisse in der Herleitung zu verwerfen.
Erfüllt sie diese drei Bedingungen, scheint rationale Theologie erst einmal eine Weggefährtin des Naturalismus zu sein. Doch die Wege der beiden trennen sich alsbald. Rationale Theologie will sich einem Territorium der Wirklichkeit nähern, das nicht am Wegesrand der Erfahrungswissenschaften liegt. Diese Terra incognita , die die rationale Theologie »Gott« nennt und die der Naturalismus auf keiner seiner Landkarten von der Wirklichkeit verzeichnet, sollte mehr sein als bloß eine logische Möglichkeit, die bisher noch niemand widerlegt hat. Logisch ist allzu vieles möglich; es für wirklich zu halten, ist deshalb in hinreichend vielen Fällen schlicht abstrus. Freilich nehmen wir heute den Naturalismus ernst, und das durchaus zu Recht, wenngleich er sich nicht beweisen lässt, ja obwohl er nicht unerhebliche Probleme aufwirft.5 Doch auch ein mögliches Dasein Gottes ist so ernst zu nehmen wie der Naturalismus, falls sich eine Lehre von Gott aus bestimmten Schwierigkeiten und Problemen des Naturalismus dialektisch herleiten lässt.6 Ein durchgängig dialektischer Bezug auf die Ungereimtheiten des Naturalismus ist eine vierte Anforderung an die rationale Theologie. Fünftens jedoch lässt sich die rationale Theologie durch die Geschichte und das Schicksal der Gottesbeweise gewarnt sein: Sie träumt nicht davon, die Probleme, die sie dialektisch für sich ausbeutet, könnten den Naturalismus definitiv widerlegen7 und den Theismus im Gegenzug definitiv beweisen.8
Wie weit kommt eine rationale Theologie, die sich den genannten fünf Bedingungen unterwirft? Sagen wir es mit den Worten eines antiken Textes:
»Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. […] Ich glaube an den Heiligen Geist, […] Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.«9
Den Gottesglauben, der sich in diesen Sätzen artikuliert, vermag eine rationale Theologie als vernünftige Hoffnung zu rechtfertigen, wohlgemerkt: als vernünftige Hoffnung. Gleichwohl ist das, sollte es gelingen, nicht wenig.10 So viel vorweg zur zentralen These, für die das vorliegende Buch eine Begründung zwar ausführlich, aber gleichwohl am Ende lediglich skizziert. Mehr als eine Skizze lässt das vorgeschriebene Format nicht zu.
I. Naturalismus
2. Naturalismus als Metaphysik
Wer heute fragt, wie vernünftig es ist, an Gott zu glauben, dem schallt ein »Indiskutabel unvernünftig!« von der Mehrheit der Intellektuellen, zumal von der Mehrheit der Philosophen unter den Intellektuellen entgegen. Die meisten Intellektuellen, vor allem aber die meisten Philosophen glauben heutzutage an den Naturalismus. Was glaubt ein Naturalist? Ich zitiere den Naturalisten Ansgar Beckermann (*1945):
»1. Die gesamte Realität besteht nur aus natürlichen Dingen; in der Realität gibt es weder Götter noch Geister noch Seelen noch andere übernatürliche Mächte und Kräfte. 2. Philosophie und Wissenschaft gehören enger zusammen als gemeinhin angenommen wird; letztlich sind es die Wissenschaften, die uns sagen, was es in der Welt gibt und wie das, was es gibt, beschaffen ist.«11
Den Glauben von Erwachsenen an Gott hält der Naturalist intellektuell für beschämend, so wie wir alle es vermutlich für intellektuell beschämend hielten, glaubte ein Erwachsener ernsthaft an Frau Holle. Am Ende seines Aufsatzes sagt Beckermann:
»Es gibt kein methodisches a priori, das bewirkt, dass sich die Wissenschaften nur mit bestimmten Aspekten der Welt befassen oder dass sie die Welt nur aus einer bestimmten Perspektive erfassen können. Denn Wissenschaft ist nicht durch eine bestimmte Methode definiert; vielmehr ist sie der systematische Versuch, herauszufinden, welche Hypothesen am besten gestützt sind.«12
Das heißt ja wohl im Klartext: Allein die Wissenschaft ist erkenntnistheoretisch vorurteilsfrei offen für die Wirklichkeit, nur die Wissenschaft hat kein Brett vor dem Kopf, im Gegensatz zu den Anti-Naturalisten aller Couleur.
Allerdings ist falsch, was Beckermann über die wissenschaftliche Vorgehensweise behauptet. Die Wissenschaften kennen sehr wohl ein methodisches Apriori. Wissenschaft verpflichtet sich auf methodologische Standards. Sie einzuhalten entscheidet mit darüber, ob etwas als Wissenschaft gelten darf oder nicht. Zu diesen Standards zählen unter anderem zwei Verbote und ein positives Gebot: In den empirischen Wissenschaften soll außerhalb des Kontextes menschlichen Handelns13 nichts mit der Wirksamkeit von Zwecken oder Zielen erklärt werden. Dieses Verbot teleologischer, auf das Ziel einer Entwicklung ausgerichteter Erklärungen ist eine methodologische Maxime. Auf sie haben sich die Wissenschaften verständigt, nachdem sich der Darwinismus und die Evolutionstheorie Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatten. Der Ausschluss teleologischer Erklärungen geht einher mit einem methodischen Atheismus: Nichts darf mit dem Wirken und den Absichten einer erfahrungstranszendenten Intelligenz erklärt werden. »Die Hypothese Gott benötigen wir in der Wissenschaft nicht«, so lautet seit Laplace in den Wissenschaften der Schlachtruf des methodischen Atheismus. Diesen beiden methodologischen Verboten stellen die Wissenschaften ein Gebot positiv zur Seite: Außerhalb des Kontextes menschlicher Handlungen ist alles letzten Endes und auf lange Sicht naturgesetzlich zu erklären.
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