Wir wussten beide, dass seiner Diagnose nichts entgegenzusetzen war, gaben uns Mühe, ihr keine Beachtung zu schenken, wir übertrafen uns dabei, dachten uns Ausreden aus für sein Zittern und für seine schwindende Kraft. Unser Lachen darüber wurde mit jeder Woche hektischer. Einmal, während ich kochte, schimpfte er über die Steuererklärung, was dort alles angegeben werden müsse: »Das Erbe wollen die wissen, noch von meinen Eltern«, er machte eine Pause, so lange, bis ich mich umdrehte, »und die finca im alten Ort, die noch uns gehört.« Er sah mich eindringlich an, nur kurz, atmete aus, ich drehte mich wieder zum Kochtopf, versuchte, die Gedanken abzuschütteln, er keuchte ein paarmal. »Yona«, sein Hals war trocken, »Yona, dreh dich um, ich muss mit dir reden.« Ich rührte schneller, tat, als hätte ich ihn nicht gehört. »Du musst dich entscheiden, weißt du.« Ich hörte ihn ja. »Yona!« Er stand auf, lief auf mich zu, ich ließ den Schwamm erst fallen, als er seine Hand auf meinen Arm legte. Ich sah ihn nicht an. »Es gibt zwei Wege«, er winkte ab, »zwei leichte Wege, du kannst natürlich auch etwas anderes machen.« Ich versuchte zu lächeln, wir gaben uns große Mühe. »Aber so oder so, mija , ich habe lange nachgedacht, ich wollte es dir nicht«, er schluckte, nahm meinen Arm fester, als ich es ihm in seinem Zustand zugetraut hätte. »Yona, ich muss das jetzt, sonst kann ich nie«, er zog mich zum Tisch, ich setzte mich, er suchte einen Zettel und einen Stift, setzte sich mir gegenüber, legte die Spitze des Stiftes auf den Zettel. »Zwei Wege, Yona.« Er sah mich nicht an dabei. »Nummer eins, das Haus hier, du bleibst, machst, was du willst, und ich rufe morgen drüben an, im alten Ort.« Er starrte auf die Spitze des Stifts, der sich fast durch den Zettel bohrte. »Und sie verkaufen die finca , ich mache das so, dass das Geld bei dir ankommt, es ist nicht so einfach, aber das kriegen wir schon hin.« Seine Stimme veränderte sich, Tränen schossen ihm in die Augen, und er zwang ein paar von den Worten hervor, die wir mein ganzes Leben lang virtuos irgendwo verscharrt hatten. »Diese finca , Yona, im alten Ort, sie ist befallen, mija , ich möchte, dass du sie verkaufst«, er fing an, Kreise in den Zettel zu malen, immer schneller und enger, »es ist nur nicht ganz einfach, wegen der Ameisen, mija .«
Der Kreis im Zettel durchbrach das Papier. »Und Weg Nummer zwei ist das Gegenteil.« Er kniff die Augen zusammen, als wäre ihm etwas herausgerutscht, das er nicht hatte sagen wollen, und machte eine Pause. Ich half ihm: »Ja?« Er wusste nicht mehr, wo wir waren. »Du willst mir Weg zwei erklären.« Er nickte erschrocken, wandte sich wieder dem zerfetzten Zettel zu. »Hier«, er rang mit sich, »unser Haus hier verkaufst du und gehst in den alten Ort.« Er sprach so schnell, dass ich es fast nicht verstand, ich lehnte mich zurück in den Stuhl, wir wussten beide, dass es nie wirklich eine Wahl gab. Er riss einen unversehrten Teil des Zettels ab, setzte den Stift an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, lehnte sich vor und schrieb Doñas Namen, ihre Adresse und ihre Telefonnummer auf. Seine Schrift war vom Zittern ganz kindlich geworden.
Als wir vor Doñas Haus stehen, sind fast alle chicharron -Reste vom Boden abgetragen. »Die kleinen Fleißigen.« Doña bückt sich über den Ameisen und summt ihnen ein Lied, winkt mich herbei, zeigt auf sie. »Guck genau hin, mija , siehst du, wie groß sie sind, ich glaube, das sind die Asiatischen.«
Ich sehe ihnen an, dass es keine Asiatischen sein können, mein Vater hat mir alle Arten erklärt. Doña stemmt ihre Hände in die Hüften: »Weißt du, warum die mara mara heißt, warum sie sich nach Ameisen benannt haben? Hat er dir das erzählt?« Ich sage nichts, sehe den Ameisen weiter bei der Arbeit zu, es ist das Einzige hier, das ist wie bei uns.
»Es gab einen Film, als die alle kamen, aus Amerika, wann war das?«, mein Ton pfeift ein wenig. »Vor, ich denke, vielleicht zehn Jahren, als die alle aus Amerika kamen mit ihren Tätowierungen, da gab es einen Film, das war, ja!«, sie findet irgendein Puzzleteil ihrer Story, erzählt ruhig weiter, »das war kurz nach dem Krieg, also, da gab es endlich wieder Kino, und dann war da dieser Film über diese Riesenameisen, die alles auffressen, Menschen, Häuser, alles, Angriff der Ameisen. Alle sind reingegangen, mija , es war wie ein Fest, es gab wieder was im Kino! Und dann hat ein Polizist, als die alle zurückgekommen sind aus Amerika mit ihren Knarren und Tätowierungen und dem Tod in ihren Augen, weißt du, wie so was aussieht«, sie dreht sich kurz zu mir, »der Polizist hat sie dann irgendwann marabuntas genannt, und wir wussten alle, was er damit meinte, es hatten ja alle den Film gesehen, und seitdem nennen wir sie mara , und sie nennen sich selber auch so.« Sie hält sich einen Finger vor den Mund, mit aufgerissenen Augen. Dann zuckt sie mit den Schultern und schüttelt das Thema ein bisschen zu abrupt ab. »Komm, wir müssen die cena vorbereiten, jetzt habe ich wieder so viel gequatscht.« Ich folge ihr durch den schmalen Gang.
Ich kannte meine Antwort schon seit Wochen. Ich wusste, dass es keine Möglichkeit für mich gab, dort zu bleiben. Ich stand nachts auf, schaltete das Licht nicht an, ging runter ins Wohnzimmer, sah die Couch, auf der er lag und schnarchte, die Pflanzen, mit denen er immer sprach, die Küche, die er gebaut hatte, die glatt gewordene Stelle auf dem Tisch, auf der die Fernbedienung immer liegen musste. Ich zog meine Gummistiefel an, ging in den Garten, durchquerte seine Beete, trat auf die kleinen Pflanzen, deren Namen nur er kannte, ich wusste nichts darüber und wollte es auch nicht wissen. Eine Wut stieg in mir auf, er hatte mir ständig von den Pflanzen erzählt, während ich meistens nur genickt und dabei an anderes gedacht hatte. Sie sahen ruhig aus. Ich wusste nicht, wann welche zu wässern war, wofür sie gut waren, aus welchen ihrer Stämme sich welche Heilmittel machen ließen und in welcher Sprache sie wie hießen. Sein Garten würde mit ihm irgendwohin gehen. Ich setzte mich mitten ins Beet, es war nass, ich schloss die Augen. Mein Vater zog sich jeden nassen Morgen die Gummistiefel an, nur im Sommer ging er barfuß, während der Kaffee dampfte, »der Schöpfung guten Morgen sagen«, durch diese Beete und pflückte dabei, wenn ich erkältet, nervös, übermüdet oder sonst irgendetwas war, immer die richtigen Blätter oder Wurzeln. Er berührte ihre Blätter, musterte sie, nahm sie ernst. »Wir pflücken nach ihrem Bedarf, mija , wie sie es wollen, nicht wie wir es wollen.« Ich hatte darüber gelacht, jetzt saß ich hier, und sie fühlten sich anders an, als sie aussahen bei Tag, die meisten Blätter hatten einen kleinen Widerstand in sich. Ich fuhr eine Pflanze an ihrem dünnen Stamm ab, es brannte, gab mir einen Ruck, ich stand auf, nahm meine andere Hand, packte die Pflanze so tief am Stamm, wie ich konnte, ihre Härchen gruben sich in meine Finger, in meine Hände. »Nur die Hände hast du von deiner Mutter.« Mein Ton wurde laut, erhöhte seine Frequenz, es schmerzte überall, mein Pyjama war jetzt nass, ich zog mit aller Kraft an der Pflanze, es brannte, sie wehrte sich, war widerspenstiger, als ich es ihr zugetraut hätte. »Von ihnen kannst du viel lernen, mija .« Ich zog, sie gab nicht nach, ich bückte mich, klammerte, meine Hände brannten, fingen an zu graben, um die Pflanze herum, wurden schneller, erreichten ihre Wurzeln, zogen jede Ader einzeln aus ihrer Bodenhaftung, zupften sie heraus, eine nach der anderen, das Gestrüpp nickte mit meinen Bewegungen mit, spendete mir Beifall, dann stellte ich mich auf, zogen wieder am schwach gewordenen Stamm, lehnte mich gegen ihn, die Pflanze verabschiedete sich zäh aus ihrer Erde und gab mit einem Ruck auf. Ich konnte mich gerade noch fangen. Ich hielt sie in der Hand, fasste noch einmal fest um ihren Stängel, ihre brennenden Haare gruben sich tiefer in meine Haut, »zum Beispiel, mija , was echte Eigenwehr ist«, ich warf sie irgendwohin, mein Ton wurde wilder. Ich legte meine Hände auf die feuchte Erde, tastete sie ab, erfasste noch eine Pflanze, sie hatte keine Härchen, ließ sich mit einer Hand ausreißen, die neben ihr auch, die nächste hatte Stacheln, ich grub meine Hand in sie ein, riss sie heraus. Mit jeder Pflanze wurde mein Ton rasender, ich hieß ihn willkommen, riss alles aus, was ich fassen konnte, zog an ihnen, brach sie ab, grub um ihre Wurzeln herum, bis die Erde unter meinen Fingernägeln zu schmerzen anfing. Als ich alle Pflanzen getötet hatte, keuchte ich, meine Lunge brannte, überall sonst war ich taub, an den Händen, an den Ohren, selbst meine Augen sahen nichts mehr richtig. Ich richtete mich auf, sah in der Terrassentür meinen Vater eingesackt in seinem Pyjama stehen, ich wischte mir die Hände an meiner Hose ab, lief über den Rasen, an ihm vorbei, er wirkte sehr klein jetzt, ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, er nickte, hatte Tränen in den Augen. Er sah meine Hände, ließ den Kopf sinken, am liebsten hätte ich auch ihn ausgerissen, ich lief an ihm vorbei, ließ ihn stehen, wollte, dass er litt, ich wusste nicht warum, meine Wut fing allmählich an, in meinen Händen zu stechen, die Taubheit wich dem Schmerz, das Blut pulsierte in meine Handflächen, ich drückte auf den Wunden herum, bis ich einen Laut von mir gab. Ich ging ins Bad, schlug mit den brennenden Fäusten gegen meine Beine, ich spürte nichts, ich suchte etwas, das ich schlagen konnte, ich holte aus gegen die Wand, entschied mich um, nahm die Tür und schlug heftig in sie hinein, bis ich ruhig wurde. Wir fuhren beide im Pyjama in die Notaufnahme und sagten nichts. Danach trug ich sechs Wochen lang einen Gips.
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