Wir laufen los, Doña geht vor. Das Geräusch wird mit jedem unserer ungleichen Schritte lauter. Es ist das Klatschen. Zwei Häuser weiter stehen drei Mädchen hinter dem Gitter, tragen Zöpfe und Trachten, nicken Doña zu, legen ihre Fladen aus den kleinen Händen auf ein rundes Blech über dem Feuer, ein Schwall von Hitze kommt uns entgegen aus dem kahlen Raum, Ziegeln, er hat kein Fenster. Die Gesichter der Mädchen sind starr, ihre Handflächen geübt und fast genauso groß wie die Tortillas, die sie den ganzen Tag in ihre Form klatschen.
»Ich komme später, das hier ist Yona, sie wohnt jetzt bei uns«, die Mädchen grüßen mich ohne Ausdruck, verlassen ihren Klatschrhythmus nicht dabei. »Wir kommen später und holen alles für die cena , heute vielleicht ein bisschen weniger, oíste , hast du gehört?« Die Kleine, die am nächsten an Doña steht, nickt, Doña zieht mich mit sich, weg von dem Tortilla-Gitter. »Gute Mädchen, sind noch nicht lange hier unten, ist vielleicht besser für sie, dass sie da drin bleiben, besser als hier draußen.« Sie zeigt auf die Häuser, an denen wir vorbeilaufen, die alle aussehen wie ihres, und sagt die Namen der Bewohner, zweimal fügt sie noch ein » assasinado « hinzu und bekreuzigt sich.
Ich mache es ihr nach. »Das ist nicht mehr lustig, mija , weißt du, die mara bringt heute mehr Menschen um als die Soldaten und alle zusammen im Krieg.« Sie hebt ihre Hände. »Da, da auch, siehst du, ihr Sohn ist vermisst, wenn du verstehst, was ich meine.« Ich verstehe nichts. Sie hebt die Hand und grüßt einen Jungen, dann hakt sie sich bei mir unter und zischt zweimal. »Und keiner kann denen was, weißt du, wir müssen uns selber helfen, niemand tut was! Früher war das nur in den roten Zonen, aber jetzt, jetzt ist die mara überall.« Sie wippt im Laufen, ich passe mich ihr an. » Homies sagen sie zu ihren Freunden«, sie spricht das H mit Nachdruck, sie ist stärker, als ich dachte, schiebt mich an den Straßenrand, ein Pick-up fährt so knapp an uns vorbei, dass ich husten muss vom aufgewirbelten Staub. Wir biegen links ab, ein kleiner Hügel, unten sehe ich schon, was sie meinen muss mit Markt. Eine Halle mit blauem Dach, links ist etwas wie ein Wettbüro oder eines der Lädchen, die hier tienda heißen, sie grüßt hinein, nur eine abgewetzte Stimme kommt zurück. Wir bleiben vor der Markthalle stehen, ein Junge hockt vor einem kleinen Plastiktisch, hält sich ein Tuch vor die Nase, in seinen Augen ist alles rot, was weiß sein sollte, sein Blick ist tot. In der Kiste vor ihm, auf einem kleinen Haufen Stroh, ein Hahn, er bewegt sich fast nicht mehr, sein Gefieder ist schütter, seine Geräusche klingen rostig. Die Ware passt zu ihrem Verkäufer. Ich schaue den Jungen ein bisschen zu lange an, Doña bemerkt es, sammelt sich, nimmt mich am Ellenbogen. »Lösemittel, mija , das ist billiger als Zigaretten, gibt’s an jeder tienda , traurig traurig.« Sie atmet einmal laut aus, damit ist ihre Trauer bekundet. Auf ihrer Stirn liegt neuer Schweiß, die Sonne prallt auf uns, ihre Hand in meiner Armbeuge wird schwitzig. »Wir müssen rein, mija , drinnen ist es kühler, und es stinkt nicht so.« Am Eingang zur Halle hockt noch ein Junge, jünger als ich, er hält seinen Kopf gelangweilt in den Händen, vor ihm steht eine Kühlbox, wie meine Lehrerinnen sie zu Picknicks mittrugen und von denen sie immer wollten, dass jemand sie ihnen abnimmt. Doña hält ihm zwei Scheine hin, aus der Halle kommen kühle Luft und künstliche Geräusche von Musik und anderen Dingen. Doña nimmt sich ein rotes Tütchen aus der Picknickbox, ich auch. »Hier«, Doña beißt mit den Zähnen die Folie vom Wassereis ab, »musst aufpassen, kannst du nicht bei jedem kaufen, manchmal ist das Wasser schmutzig, und dein Magen macht ein paar Tage alles, was du nicht willst.« Sie macht ein blubberndes Geräusch, ich lache, dann saugt sie an dem kleinen Loch, das sie aufgebissen hat, bis um ihre Lippen herum das Eis seine rote Farbe verliert, ich mache es ihr nach, die Folie schmeckt bitter, was dahinter kommt ist seifig und süß, es tut gut. Dann gehen wir in die Halle, schieben uns durch die Menschen, wie ein Vorhang stehen sie herum. Doña geht vor, sie schiebt sie zur Seite, aus dem Weg. Sie rufen ihre Waren in die Halle, die Preise, Grüße, die Schönheit oder die Summen, die Tagesangebote, es gibt Kurzwaren, Nadeln, Batterien, daneben der Mann mit den Hühnerteilen, die Beine hängen schlaff in die Halle hinein. »Lecker«, Doña fragt mich, was ich brauche, ich zucke mit den Schultern, am Boden sitzt ein Junge und verkauft Lichterketten, singende Weihnachtsmänner und blinkende Tannenbäume. » Mijo , wir kommen nächstes Jahr wieder.« Er nickt, Doña verdreht die Augen wegen der Unangemessenheit der Weihnachtsbeleuchtung, wie mein Vater, wenn er mit seinen letzten Sommershorts durch den Discounter ging und sich an der Kasse beschwerte, dass die Spekulatius so aufgestellt waren, dass er sie sehen musste, auf Augenhöhe, in den Zwischenregalen, eine Frechheit. Wir hatten Regeln. Nichts, dass nach Weihnachten roch, aussah oder schmeckte, durfte in unser Haus, geschweige denn in unseren Mund kommen vor dem ersten Advent. Nur in seinem letzten Jahr machte er eine Ausnahme.
»Ich werde zu Weihnachten nicht mehr da sein, mija .« Mein Vater hatte bei mir einen Schokoladennikolaus bestellt, hielt ihn in seinen Händen, stellte ihn auf den Kopf. »Wahrscheinlich«, er schwenkte ihn hin und her, wankte, setzte sich. Ich hasste den Supermarkt dafür, dass diese Sachen so früh in den Verkauf kamen, er war zu schnell in seinen Händen gelandet. Er entblätterte ihn zittrig, oben, an der Kappe, zog ein wenig rote Alufolie ab. »Deshalb darf ich auch jetzt schon.« In seinem Scherzen war nichts Bitteres, aber mein Körper vereiste. Der schokoladenbraune Kopf erschien unter seinem erwartungsvollen, ausgezehrten Gesicht. Er legte ihn auf seine untere Zahnreihe, biss langsam ab, seine Kraft reichte gerade noch für die billige Schokolade. »Das ist lustig, Yona«, er kaute, schloss die Augen, genoss kurz. »Ich habe es ausgerechnet, das Ende ist dann ungefähr«, seine Worte kamen sehr langsam, »auch das Fest der Geburt.« Er wischte sich mit einem Finger die verzuckerten Mundwinkel ab und hielt mir den Rumpf hin, ich winkte ab. »Stimmt, du darfst auch gar nicht probieren, bei dir würde das ja gegen die Regeln verstoßen, ganz eindeutig«, sagte er und biss noch ein wenig ab. Er kaute, schluckte. »Was ich noch sagen will, also, es ist ja immer auch ein Anfang.« Er nickte und legte den angebissenen kleinen Körper auf den Couchtisch. Dort lag er sehr lange. Er aß ihn nicht auf.
Ein Junge spielt an einem dicken Gameboy herum, wir laufen weiter, die Halle ist dunkel und kühl, auf allem liegt dieser Fleischgeruch, sodass ich die frischen Farben kaum abkaufen kann. Eine dicke Frau steht hinter zwei Feuerstellen, Suppen, sie rührt abwechselnd und klopft die Kellen am Topfrand ab. Doña begrüßt sie mit einem Handschlag, stellt mich vor, die Frau macht mir ein Kompliment, bevor sie wieder in Interesselosigkeit fällt. Doña bestellt zwei liquados , holt Münzen aus ihrer Schürzentasche, die Frau schüttelt den Kopf, Doña diskutiert nicht und steckt sie sofort wieder zurück. Die Frau schneidet Früchte in allen Farben, die sich auf ihrem Schneidebrett zu einem Braun vermischen, wirft sie in den Mixer, fragt nach Milch, Doña nickt, sie fragt nach Zucker, Doña hält ihre Hand über den Mixer, lässt ein paar Millimeter zwischen Daumen und Zeigefinger, » un poquito .« Die Frau füllt einen Plastikbecher voll, gibt ihn in den Mixer, füllt alles mit Eiswürfeln auf, legt den Deckel darauf und mixt. Ihre Blicke wandern von mir zu Doña. »Das ist sie also«, sie schnalzt mit der Zunge, Doña stellt sich einen kleinen Schritt vor mich. »Was?« Die Frau zuckt mit den Schultern. »Das Mädchen, das Mädchen, auf das der Bauch gewartet hat«, sie hebt ihre Augenbrauen, »auf das alle gewartet haben. Wie sie aussieht«, sie mustert mich und reicht uns unsere Becher. Doña reißt sie ihr aus der Hand, wünscht einen guten Tag, verschüttet dabei einen großen Teil und wendet sich heftig von der Frau ab. Was wir trinken, ist rosa, kühl und süß. Sie trinkt bis auf den Grund des Bechers, saugt an seinem Boden herum, und stößt ein paar Worte seitlich am Strohhalm vorbei in meine Richtung. »Lass dich nicht verunsichern, mija .« Sie hakt sich bei mir unter, schiebt mich aus der Halle, auf die Straße. Wir laufen zurück, an den Straßenrändern sind manchmal Stücke eines Gehwegs, links ein paar Blechhäuschen, Kinder, Hunde und frische Wäsche, der Mittag ist geschäftig, die Straße ist voll von klappernden Flip-Flops und Blechmusik, links ist ein Neubau, davor ein älterer Herr als Wachmann mit Schrotflinte. Die Sonne steht steiler als vorhin, ich schwitze, Doña bleibt kurz stehen, atmet aus und holt von irgendwoher plötzlich das Wichtigste hervor: »Bist du wegen dem Haus hier, mija ?« Ich verschlucke mich an nichts, schüttle den Kopf, zucke mit den Schultern. »Na gut«, sie hakt sich wieder bei mir ein und zieht mich die Straße entlang. Ich verstehe ihr Timing nicht. »Die haben es in den Händen«, als hätte das Thema an Wichtigkeit verloren, verfällt sie in ein märchenhaftes Erzählen, »auf beiden Seiten, die alemanes , der Club, und der, na ja, und Barriga, der Bauch, du lernst ihn bald kennen, er hat einen Fuß auf der einen Straßenseite.« Sie kichert. »Eine Brücke, stell ihn dir als Brücke vor, nur mit einer Wampe, hier«, sie hält sich ihre Hände einen halben Meter vor den Bauch und kichert, »ist mit uns aufgewachsen, also da oben«, sie hebt ihren Finger, zeigt auf den Berg, »im Haus mit deinem papá , deiner ma – «, sie sieht mich mitleidig an, »mit mir, allen, den Deutschen, ein Waise, kannte nur uns und deinen Vater, ist ihm immer hinterhergelaufen, schon als Kind, hat ihn fast vergöttert«, sie bekreuzigt sich. »Das sollte man nie, Menschen vergöttern ist immer eine dumme Idee, mija .« Sie klopft mir auf den Arm. »Aber das machst du nicht, ich sehe das. Das sieht man Menschen an, du hast diesen Rücken.« Sie geht mit ihren Fingern meine Wirbelsäule ab. »Diesen geraden Rücken, du weißt ganz genau, wie groß du bist, du fragst dich das nicht bei jedem Schritt, und noch wichtiger, mija , deine Augen«, sie bleibt stehen, stellt sich vor mich, um mir lange in die Augen zu sehen, dann lächelt sie. »Ja, deine Augen sind von deinem Vater, diesen Punkt, du hast nur einen Punkt, immer«, sie hakt sich wieder bei mir ein, »habe ich gleich gesehen, du suchst nicht überall, kommst in ein neues Haus, ein neues Land, zu uns, wir sind ja alle neu für dich, aber deine Augen wissen, welchen Punkt sie sich suchen. Deshalb mache ich mir keine Sorgen, dass da irgendetwas passiert, wenn du ihn kennenlernst, weil du weißt, wie groß du bist, mija . Du darfst nur nicht lachen! Er sieht ein bisschen peinlich aus«, sie zieht ihren Arm aus meiner Beuge, fährt sich mit beiden Händen durch die Haare, zieht sie an ihrem Kopf entlang nach hinten. »So, mija , mit dem Fett in den Haaren, wie in den Filmen, ich glaube, er war ein bisschen zu lange in den Staaten.« Sie lacht, zischt etwas in Gedanken an den Mann, der die finca »verwaltet«, so hat mein Vater das genannt und sein Gesicht dabei zwischen Fingeranführungszeichen bewegt. »Genug, ich Plappertante, er ist jedenfalls oft hier gewesen, hat etwas vorbereitet, hat jemanden gesucht, der dich hinbringt und so weiter, ich habe gesagt, Cristóbal macht das, dann hat er sich mit ihm getroffen, und du hättest Cris’ Gesicht sehen sollen, als er zurückkam, das war nicht schön, aber geredet hat er nicht, nein«, sie bleibt an der Kreuzung mit unserer Straße stehen, nimmt meine Hände. »Was ich sagen will, keine Angst, Cris ist ein Guter, fast so etwas wie mein Sohn, mija , aber pass auf, ich weiß nicht, was das alles soll, ich weiß nicht, was er will, was mit dem Haus ist, dem Club, ich weiß nichts davon, ich weiß nur, dass alles gut wird.« Sie drückt meine Hände, ihre Worte verlieren die Floskelhaftigkeit. »Aber pass auf dich auf, ich bete.« Sie drückt noch einmal, hakt sich wieder bei mir ein. »Aber schön, sehr schön, mija , dass du hier bist, das ist ein bisschen Zuhause, oder?«
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