Zum Glück bin ich da anders, bedachter, überlegter. Ich treffe keine Bauchentscheidungen. Bei mir siegt stets der Verstand – zumindest, wenn es um wichtige Dinge geht. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich mit 22 noch Jungfrau bin und der Männerwelt bisher die kalte Schulter gezeigt habe. Nicht, dass es keine Interessenten gegeben hätte. Paulina behauptet ja immer, ich wäre die nächste Cindy Crawford, weil ich in eine Kleidergröße 34 passe und mein Gesicht ganz nett anzusehen ist. Aber trotzdem sind mir die Liebesbriefe von irgendwelchen verpickelten Teenies aus der Unterklasse, die beinahe jede Woche im Schlitz meines Spinds hängen, lästig. Ich habe keinen Bock auf Männer, schon mal gar nicht auf Typen, die noch grün hinter den Ohren sind und ihre Schwänze mit einem Lineal vermessen, um herauszufinden, wer das rechtmäßige Alphatier der Uni-Gang ist. Auf unserem Campus tummeln sich verschiedene Gruppierungen: Die Nerds, die Punks, die Rapper, die Barbies, die unscheinbaren Normalos und Leute wie Toni und ich – die, die in keine Schublade passen. Böse Zungen nennen uns auch Außenseiter, weil Toni und ich undefinierbar sind. Kaum einer scheint mich hier zu verstehen. Dabei bin ich überhaupt nicht kompliziert. Ich will einfach nur studieren und eine gute Ärztin werden. Ich will weder cool sein, noch einer der Gangs angehören.
Für meinen Traum lerne ich ziemlich viel in meiner Freizeit. Sogar mein gesetzlicher Vormund, Paulinas Eltern, bezeichnen mich als Streberin. Meine eigentlichen Erzeuger? … Ein heikles Thema. Von Paulinas Eltern, die die beiden kannten, weiß ich nur so viel: Ich komme wohl aus ärmlichen Verhältnissen. Meine Eltern haben knapp hinter der italienischen Grenze in Frankreich gelebt, weswegen ich nicht Elisa, sondern Elizá heiße. Meine Mutter starb, als ich noch klein war und mein Vater soll sich totgesoffen haben. Aber da gibt es verschiedene Geschichten zu … Keine Ahnung … Vergessen wir es einfach. Ich habe keine Eltern. Ende.
Seit einigen Jahren wohne ich bei Paulina und ihren Eltern. Ich bin mit ihnen nach Italien gezogen, weil Paulinas Mama aus Mailand kommt und zurück in ihre Heimat wollte. Aber auch, wenn sie mich quasi großgezogen haben, sehe ich Gianni und Maria nicht als meine Eltern, sondern als freundschaftliche Lebensabschnittsbegleiter mit viel Erfahrung und einem stets offenen Ohr für mich an.
Mein Studium finanziere ich mir mit diversen Fotoaufträgen, bei denen ich modele. Paulina hat vor zwei Jahren einfach eine Bewerbung mit Bildern von mir an eine Agentur geschickt, ohne dass ich davon wusste. Zuerst war ich deswegen ziemlich sauer auf sie. Doch als der erste Auftrag über 250 Lire kam, war ich ihr dankbar. Seitdem ziehe ich regelmäßig Aufträge an Land, um mir mein Leben und das Studium zu finanzieren und Maria und Gianni nicht ständig auf der Tasche zu liegen. In der Uni sieht man allerdings nicht die Spur von meinen Modelqualitäten. Da bin ich einfach ich. Ganz leger und ich versuche nicht aufzufallen.
Der Professor schlägt sein Buch zu. Schon Schluss? Die letzten zwanzig Minuten muss ich wohl geträumt haben. Na, sei es drum. Schnell packe ich meine Sachen zusammen und schnappe mir meine Jacke. Ich kann es kaum erwarten von hier zu verschwinden.
Das Gemurmel im Hörsaal wird lauter, als alle ihre Taschen packen, sich von ihren Plätzen erheben und in Richtung Ausgang drängeln.
Hinter mir geht Caterina, eine hochnäsige Ziege, die ich vom ersten Tag an schon nicht leiden konnte, weil sie sich für etwas Besseres hält und mich für meinen Kleidungsstil kritisiert.
»Guckt mal, wie die heute wieder rumläuft«, kichert sie eingebildet. Sie hält sich wohl für etwas Besonderes, weil sie in der neusten Mailänder-Mode rumläuft. Zu welcher Gang sie gehört, wusste ich schon, bevor sie mir vorgestellt wurde.
Wahrscheinlich schleichen ihre Freundinnen, die Zwillinge Christina und Chiara wieder um sie herum und bestätigen sie in ihrem Barbie-Dasein. Optisch sieht sie ja ganz gut aus, doch ihr Charakter ist hässlich wie die Nacht. Daran kann auch der Haufen Schminke nichts ändern, den sie sich täglich ins Gesicht klatscht.
Wenn ich schon ihre Stimme höre, verdrehe ich reflexartig die Augen. Ja, ich trage gern lässige Jeans, Tops und Häkelpullis, na und? So bin ich halt. Ich hasse pink, trage einen Rucksack anstatt einer Tasche, trinke Pepsi anstelle von Champagner und poge lieber zu Grunge, als auf Popmusik zu tanzen. Wer damit ein Problem hat, soll mich einfach in Ruhe lassen. Leben und leben lassen. Die einzige Ausnahme sind Shootings: Da lasse ich für Geld dann auch gern mal die Barbie raushängen. Doch das ist eine Scheinwelt. Im echten Leben bin ich ganz anders. Es ist 1994 – Zeit der Veränderung, der Persönlichkeitsfindung und die der Rebellen. Nicht umsonst ist Cobain die Stimme unserer Generation – zumindest die Meiner.
Ich schenke Caterina und ihrem verblödeten Schnepfengefolge keine Beachtung. Die sind sowieso nur hier, weil sich das als Kinder einflussreicher Eltern so gehört. Da muss man eben irgendetwas studieren, egal ob es sie ernsthaft interessiert. Beim Rausgehen kuschle ich mich an Toni, meinen schwulen, besten Freund. Mit seinen Doc Martens, den Levi´s Jeans und dem verwaschenen, rot-schwarzen Holzfällerhemd ist er unverkennbar. Toni geht vor mir und zuckt zusammen, als ich von hinten meine Arme um ihn lege und ihm seinen Namen ins Ohr hauche.
»Na, meine Schöne. Heute gehts zum Gig, was?«, fragt Toni und legt seine Hand auf meine, die sich an seine Brust drückt. Er weiß immer, was in meinem Leben Aufregendes passiert. Manchmal ist Paulina ziemlich eifersüchtig auf ihn, obwohl ich ihr schon hunderte Male gesagt habe, dass nur sie meine allerbeste Freundin ist.
»Ja, ich freu mich schon total.« Ich hake mich nun seitlich bei Toni ein und lege meinen Kopf auf seiner breiten Schulter ab. Er ist ein kleines Moppelchen. Aber nur ein bisschen.
»Und, wie läufts mit deinem Simon?«, flüstere ich, um Toni nicht in Verlegenheit zu bringen. Kaum einer hier weiß, dass er schwul ist und das sollte bei dem intoleranten Haufen hier auch besser so bleiben.
Ein verlegenes Lächeln huscht über seine Lippen und Röte schießt ihm prompt ins Gesicht. Er muss gar nicht mehr antworten, denn seine Mimik verrät mir alles, was ich wissen will.
»Freut mich«, sage ich grinsend.
Nachdem wir uns durch die Tür des Hörsaals gequetscht haben, werfe ich einen Blick auf meine Uhr. »Mist. Ich muss los. Paulina wartet.« Ich drücke Toni einen Kuss auf die Wange.
»Viel Spaß heute Abend.«
»Den werde ich haben«, antworte ich zwinkernd und dränge mich dann durch die Menge vor mir.
Als ich über den Campus laufe, weht mir der kalte Februarwind um die Nase. Sofort ziehe ich mir den Jackenkragen hoch bis unter die Nase und halte schnellen Schrittes auf die Straße zu. Suchend blicke ich mich um, denn ich kann Paulina nirgends entdecken. Normalerweise steht sie immer auf der anderen Seite der Straße und winkt mir schon von weitem zu. Doch der Bordstein gegenüber der Uni ist wie leergefegt.
Nur eine Gruppe junger Männer steht am Straßenrand. Es sind düstere Typen, mit denen ich zum Glück nichts zu tun habe. Ich mustere sie kurz aus dem Augenwinkel.
Einer von ihnen sticht besonders heraus. Im Gegensatz zu den anderen, typisch südländisch anmutenden Kerlen, hat dieser langes, dunkelblondes Haar. Ein paar Strähnen sind etwas heller. Eher ungewöhnlich für einen Italiener. Ich vermute, dass er nicht von hier ist. Er trägt ein dunkelbraunes Shirt mit V-Ausschnitt und eine Kette.
Im ersten Augenblick denke ich, Cobain persönlich steht dort. Doch beim zweiten Hinsehen wird mir klar, dass ich träume. Ich bin mit meinen Gedanken schon viel zu sehr beim Konzert.
Der junge Blonde sieht mich an und die anderen beiden Männer neben ihm tun es ihm gleich. Er geht ein paar Schritte auf mich zu und sieht mich fragend an. »Bist du Elizá?«, Das kaugummikauende Cobaindouble streicht sich eine Strähne seiner Haare hinter das Ohr und scheint auf eine Antwort zu warten.
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