„Es ist unmöglich sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist“, sagte sich Karl und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr darunter wahrscheinlich Therese litt. Er wußte, daß alles was er sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde als es gemeint gewesen war und daß es nur der Art der Beurteilung überlassen bliebe, Gutes oder Böses vorzufinden.
„Er antwortet nicht“, sagte die Oberköchin.
„Es ist das Vernünftigste, was er tun kann“, sagte der Oberkellner.
„Er wird sich schon noch etwas ausdenken“, sagte der Oberportier und strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.
„Sei still“, sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen begann, „Du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun. Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner Unrecht behält. Sag doch Therese, habe ich Deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?“ Wie konnte das Therese wissen und was nützte es, daß sich die Oberköchin durch diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor den beiden Herren vielleicht viel vergab?
„Frau Oberköchin“, sagte Karl, der sich noch einmal aufraffte, aber nur um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem andern Zweck, „ich glaube nicht, daß ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe und nach genauer Untersuchung müßte das auch jeder andere finden.“
„Jeder andere“, sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner, „das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary.“
„Nun Frau Oberköchin“, sagte dieser, „es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache.“
Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.
Die Oberköchin hatte seit Karls letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet und es deutete auch nichts darauf hin, daß sie die Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächsten Augenblicke sagen: „Nun Karl, die Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und braucht wie Du es richtig gesagt hast noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muß sein.“
Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die niemand zu unterbrechen gewagt hatte – nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld: „Nein Karl nein, nein! Das wollen wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehn und das hat, ich muß es gestehn, Deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muß es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für Dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt.“ (Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)
Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluß und sagte: „Karl, komm einmal her“ und als er zu ihr gekommen war – gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch – umfaßte sie ihn mit der linken Hand, gieng mit ihm und der willenlos folgenden Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einigemal auf und ab, wobei sie sagte: „Es ist möglich, Karl, und darauf scheinst Du zu vertrauen, sonst würde ich Dich überhaupt nicht verstehn, daß eine Untersuchung Dir in einzelnen Kleinigkeiten recht geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was ich von dem Oberportier zu halten habe, Du siehst ich rede selbst jetzt noch offen zu Dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen Dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe und welcher der verläßlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat Deine Schuld klar ausgesprochen und die scheint mir allerdings unwiderleglich. Vielleicht hast Du bloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist Du nicht der, für den ich Dich gehalten habe. Und doch“, damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, „kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, Dich für einen im Grunde anständigen Jungen zu halten.“
„Frau Oberköchin! Frau Oberköchin“, mahnte der Oberkellner, der ihren Blick aufgefangen hatte.
„Wir sind gleich fertig“, sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf Karl ein: „Höre Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß der Oberkellner keine Untersuchung einleiten will, denn wollte er sie einleiten, ich müßte es in Deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit Du den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer Deiner früheren Kameraden gewesen sein kann wie Du vorgibst, denn mit denen hast Du ja zum Abschied großen Streit gehabt, so daß Du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter sein, mit dem Du Dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest Du mir, Karl, alle diese Dinge verbergen? Wenn es Dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und Du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit Deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warum hast Du denn kein Wort davon gesagt, Du weißt ich wollte Dir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über Deine Bitten verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest Du den allgemeinen Schlafsaal vorgezogen weil Du Dich dort ungebundener fühltest. Und Dein Geld hattest Du doch in meiner Kassa aufgehoben und die Trinkgelder brachtest Du mir jede Woche, woher um Gotteswillen, Junge, hast Du das Geld für Deine Vergnügungen genommen und woher wolltest Du jetzt das Geld für Deinen Freund holen? Das sind natürlich lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung unausweichlich. Du mußt also unbedingt aus dem Hotel undzwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner – Du warst doch schon mehrmals mit Therese dort – sie werden Dich auf diese Empfehlung hin umsonst aufnehmen“ – und die Oberköchin schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige Zeilen auf eine Visitkarte, wobei sie aber die Rede nicht unterbrach – „Deinen Koffer werde ich Dir gleich nachschicken, Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen und pack seinen Koffer“, (aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte, wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum Bessern, welche die Sache Karls dank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterleben).
Jemand öffnete ohne sich zu zeigen ein wenig die Tür und schloß sie gleich wieder. Es mußte offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser trat vor und sagte: „Roßmann ich habe Dir etwas auszurichten.“ „Gleich“, sagte die Oberköchin und steckte Karl, der mit gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visitkarte in die Tasche, „Dein Geld behalte ich vorläufig, Du weißt, Du kannst es mir anvertrauen. Heute bleib zu hause und überlege Deine Angelegenheit, morgen – heute habe ich nicht Zeit, auch habe ich mich schon vielzulange hier aufgehalten – komme ich zu Brenner und wir werden zusehn was wir weiter für Dich machen können. Verlassen werde ich Dich nicht, das sollst Du jedenfalls schon heute wissen. Über Deine Zukunft mußt Du Dir keine Sorgen machen, eher über die letztvergangene Zeit.“ Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und gieng zum Oberkellner hinüber, Karl hob den Kopf und sah der großen stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihm entfernte.
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