„Herr Oberportier“, sagte Karl, der während der Unachtsamkeit des Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins Reine bringen wollte, denn er begriff, daß ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft, „ich grüße Sie ganz gewiß. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können und noch vor zwei Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben. Ich habe Sie jeden Tag einigemal gegrüßt. Aber natürlich nicht jedesmal wenn ich Sie gesehen habe, da ich doch täglich hundertmal an Ihnen vorüberkomme.“ „Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal ohne Ausnahme, Du hast die ganze Zeit, während Du mit mir sprichst die Kappe in der Hand zu halten, Du hast mich immer mit Oberportier anzureden und nicht mit Sie. Und alles das jedesmal und jedesmal.“ „Jedesmal?“ wiederholte Karl leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem ersten Morgen, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht angepaßt, etwas zu kühn, diesen Portier ohne weiters umständlich und dringlich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht nach ihm gefragt und etwa eine Photographie für ihn zurückgelassen hätten. „Jetzt siehst Du, wohin ein solches Benehmen führt“, sagte der Portier, der wieder ganz nahe zu Karl zurückgekehrt war und zeigte auf den noch lesenden Oberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache. „In Deiner nächsten Stellung wirst Du es schon verstehn, den Portier zu grüßen und wenn es auch nur vielleicht in einer elenden Spelunke sein wird.“
Karl sah ein, daß er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsache wiederholt und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient so gut er konnte und gewiß besser als mancher andere Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil, weder in Europa noch in Amerika Rücksicht genommen, sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre, die Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen die Enttäuschung und Trauer über sein Benehmen wenigstens beim persönlichen Abschied zu ersparen, brieflich verabschieden können, hätte rasch seinen Koffer packen und in der Stille fortgehn können. Blieb er aber auch nur einen Tag noch – und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht – so erwartete ihn nichts anderes, als Aufbauschung seiner Sache zum Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche Anblick der Tränen Thereses und vielleicht gar der Oberköchin und möglicherweise zuguterletzt auch noch eine Bestrafung. Andererseits aber beirrte es ihn, daß er hier zwei Feinden gegenüberstand und daß an jedem Wort, das er aussprechen würde, wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten deuten würde. Deshalb schwieg er und genoß vorläufig die Ruhe, die im Zimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung und der Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnis nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren Kurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.
Endlich legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich durch einen Blick auf Karl daß dieser noch anwesend sei und drehte die Glocke des Tischtelephons an. Er rief mehrere Male Halloh, aber niemand meldete sich. „Es meldet sich niemand“, sagte er zum Oberportier. Dieser, der das Telephonieren wie es Karl schien, mit besonderem Interesse beobachtete, sagte: „Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiß schon wach. Läuten Sie nur stärker.“ In diesem Augenblick kam, ohne weitere Aufforderung das telephonische Gegenzeichen. „Hier Oberkellner Isbary“, sagte der Oberkellner. „Guten Morgen Frau Oberköchin. Ich habe Sie doch nicht am Ende geweckt. Das tut mir sehr leid. Ja, ja, dreiviertel sechs ist schon. Aber das tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie erschreckt habe. Sie sollten während des Schlafens das Telephon abstellen. Nein, nein tatsächlich, es gibt für mich keine Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache wegen deren ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte sehr, ich bleibe beim Telephon wenn es Ihnen recht ist.“ „Sie muß im Nachthemd zum Telephon gelaufen sein“, sagte der Oberkellner lächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit gespanntem Gesichtsausdruck zum Telephonkasten sich gebückt gehalten hatte. „Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt, geweckt und die muß es heute ausnahmsweise versäumt haben. Es tut mir leid, daß ich sie aufgeschreckt habe, sie ist so wie so nervös.“ „Warum spricht sie nicht weiter?“ „Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los ist“, antwortete der Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder. „Sie wird sich schon finden“, redete er weiter ins Telephon hinein. „Sie dürfen sich nicht von allem so erschrecken lassen, Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Ja also meine kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge, namens“ – er drehte sich fragend nach Karl um, der, da er genau aufpaßte gleich mit seinem Namen aushelfen konnte – „also namens Karl Roßmann, wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig interessiert; leider hat er Ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere jetzt noch gar nicht übersehbare Unannehmlichkeiten verursacht und ich habe ihn daher soeben entlassen. Ich hoffe Sie nehmen die Sache nicht tragisch. Wie meinen Sie? Entlassen, ja entlassen. Aber ich sagte Ihnen doch, daß er seinen Posten verlassen hat. Nein da kann ich Ihnen wirklich nicht nachgeben liebe Frau Oberköchin. Es handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf dem Spiel, so ein Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen muß man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein lasse Ihnen gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon trotz allem hier ließe, zu keinem andern Zweck als um meine Galle in Tätigkeit zu erhalten, Ihretwegen, ja Ihretwegen Frau Oberköchin kann er nicht hierbleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus nicht verdient und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß ich, daß das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen müßte, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das ganz offen, trotzdem der verstockte Junge paar Schritte vor mir steht. Er wird entlassen, nein nein Frau Oberköchin, er wird vollständig entlassen, nein nein er wird zu keiner andern Arbeit versetzt, er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier z. B. ja also was denn, Feodor, ja beklagt sich über die Unhöflichkeit und Frechheit dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja liebe Frau Oberköchin Sie verläugnen wegen dieses Jungen Ihren Charakter. Nein so dürfen Sie mir nicht zusetzen.“
In diesem Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redete dann so rasch in das Telephon, daß Karl ihn anfangs nicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte nähertrat.
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