„Karl“, sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Karl mit geneigtem Kopfe an – es war gar nicht wie ein Verhör – „vor allem will ich Dir sagen, daß ich noch vollständiges Vertrauen zu Dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen Dich im Grunde gerne hierbehalten.“ – Sie sah hiebei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht – „Vergiß also, was man Dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat. Vor allem was Dir vielleicht der Herr Oberportier gesagt hat, mußt Du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber er hat auch Frau und Kinder und weiß, daß man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muß, sondern daß das schon die übrige Welt genügend besorgt.“
Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah Erklärungen fordernd auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der Liftjunge Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe es niemanden hören zu lassen.
Karl aber blickte, trotzdem das nur als schlechtes Zeichen aufgefaßt werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an dem Striemen fest und er hätte eigentlich den Rock ausziehn und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr freundlich gemeint, aber unglücklicher Weise schien es ihm, als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage treten, daß er keine Freundlichkeit verdiene, daß er die Wohltaten der Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja daß er nichts anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.
„Ich sage das“, fuhr die Oberköchin fort, „damit Du jetzt unbeirrt antwortest, was Du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich Dich zu kennen glaube.“
„Darf ich bitte inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischen verbluten“, mischte sich plötzlich der Liftjunge Bess sehr höflich, aber sehr störend ein.
„Geh“, sagte der Oberkellner zu Bess, der gleich davonlief. Und dann zur Oberköchin: „Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß festgehalten. Unten im Schlafsaal der Liftjungen ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herumgeschrien, der Schlafsaal gehöre dem Karl Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im übrigen müsse er auch deshalb auf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie bitte darauf, Frau Oberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch acht geben Roßmann“, sagte der Oberkellner nebenbei zu Karl, der sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte, und die immer wieder entweder irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst willen machte. „Aber vielleicht erinnere ich Dich an irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, daß ihr beide nach Deiner Rückkunft einen Nachtbesuch bei irgendeiner Sängerin machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte.“
Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß. „Ich verschone Sie mit dem weitern“, sagte der Oberkellner. „Nein bitte nein“, sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, „erzählen Sie nur weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier.“ Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, daß er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: „Ja Sie hatten ganz recht Feodor!“ gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.
„Es ist nicht mehr viel zu erzählen“, sagte der Oberkellner. „Wie die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm Streit bekommen und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehn, einfach niedergeboxt worden und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wieviel Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht.“
„So“, sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz, den sie eben verlassen hatte. „Also sprich doch bitte ein Wort Roßmann!“ sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchin hinübergelaufen und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte tun sehn, in die Oberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und glättete langsam einen kleinen bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlagen hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: „Also wirds?“ wollte damit aber nur einen Stoß maskieren, den er unterdessen Karl in den Rücken gab.
„Es ist wahr“, sagte Karl infolge des Stoßes unsicherer als er wollte, „daß ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe.“
„Mehr wollen wir nicht wissen“, sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
„Ich konnte mir nicht anders helfen“, sagte Karl weiter. „Der Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so betrunken, daß er nicht wieder allein fortgehn konnte.“
Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: „Er kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, daß er nicht fortgehn konnte.“ Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese – Karl sah nur zu ihr hin – drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehn. Der Einzige der mit Karls Erklärung vollständig zufrieden war, war der Oberportier, welcher einigemal wiederholte: „Es ist ja ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen“ und diese Erklärung jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.
„Schuld also bin ich“, sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weitern Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, „schuld bin ich nur daran, daß ich den Mann, er heißt Robinson, ist ein Irländer, in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit gesagt und es ist nicht richtig.“
„Du hast ihm also kein Geld versprochen?“ fragte der Oberkellner.
„Ja“, sagte Karl und es tat ihm leid, daß er daran vergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. „Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute Nacht verdient hatte.“ Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.
„Du verrennst Dich immer mehr“, sagte der Oberkellner. „Wenn man Dir glauben sollte, müßte man immer das was Du früher gesagt hast vergessen. Zuerst hast Du also den Mann – nicht einmal den Namen Robinson glaube ich Dir, so hat, seitdem es ein Irland gibt, kein Irländer geheißen – zuerst also hast Du ihn nur in den Schlafsaal gebracht, wofür allein Du übrigens schon im Schwung herausfliegen könntest – Geld aber hast Du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn man Dich überraschend fragt, hast Du ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und Fragespiel, sondern wollen Deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber wolltest Du das Geld nicht holen, sondern ihm Dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber zeigt sich, daß Du dieses Geld noch bei Dir hast, also offenbar doch noch anderes Geld holen wolltest, wofür auch Dein langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts Besonderes, wenn Du für ihn aus Deinem Koffer hättest Geld holen wollen, daß Du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwas Besonderes. Ebenso wie Du auch immerfort verschweigen willst, daß Du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn Du selbst hast zugegeben, daß er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehn konnte und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, daß er Dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die Du, wenn Du die Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlich auch ohne Deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens wie hast Du Dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft und zweitens wieso hast Du verschenkbares Geld angesammelt?“
Читать дальше