„Liebe Frau Oberköchin“, hieß es, „aufrichtig gesagt, ich hätte nicht geglaubt, daß Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwas über Ihren Engelsjungen, was Ihre Meinung über ihn gründlich ändern wird und es tut mir fast leid, daß gerade ich es Ihnen sagen muß. Dieser feine Junge also, den Sie ein Muster von Anstand nennen, läßt keine dienstfreie Nacht vergehn, ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt. Ja ja Frau Oberköchin das ist durch Zeugen bewiesen, durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er das Geld zu diesen Lustbarkeiten hernimmt? Wie er die Aufmerksamkeit für seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch noch, daß ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungen loszuwerden, will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie bitte nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen sein soll.“
„Aber Herr Oberkellner“, rief nun Karl, förmlich erleichtert durch den großen Irrtum, der hier unterlaufen schien, und der vielleicht am ehesten dazu führen konnte, daß sich alles noch unerwartet besserte, „da liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, daß ich jede Nacht weggehe. Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im Schlafsaal, das können alle Jungen bestätigen. Wenn ich nicht schlafe lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderm und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt daß ich ihn nicht grüße.“
„Wirst Du sofort schweigen“, schrie der Oberportier und schüttelte die Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten, „ich soll Dich mit jemand andern verwechseln. Ja dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert, wie mir hunderte von Herren Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen, aber bei Dir miserabler Junge soll ich mit den Verwechslungen angefangen haben. Bei Dir, mit Deiner auffallenden glatten Fratze. Was gibt es da zu verwechseln, Du könntest jede Nacht hinter meinem Rücken in die Stadt gelaufen sein und ich bestätige bloß nach Deinem Gesicht, daß Du ein ausgegohrener Lump bist.“
„Laß Feodor!“ sagte der Oberkellner, dessen telephonisches Gespräch mit der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. „Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es ja in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch irgend eine große Untersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir schon vorstellen daß ihm das gefallen würde. Es würden womöglich alle vierzig Liftjungen heraufcitiert und als Zeugen einvernommen, die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müßte also allmählich das ganze Personal zur Zeugenschaft heran, der Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt und wenn er dann schließlich doch herausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten und damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter hören, Du bist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus dem Dienst entlassen. Da gebe ich Dir eine Anweisung an die Kasse, daß Dir Dein Lohn bis zum heutigen Tag ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei Deinem Verhalten, unter uns gesagt, einfach ein Geschenk, das ich Dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache.“
Ein telephonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu unterschreiben. „Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!“ rief er schon nach Anhören der ersten Worte. „Das ist ja unerhört!“ rief er nach einem Weilchen. Und vom Telephon weg wandte er sich zum Hotelportier und sagte: „Bitte Feodor halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu reden haben.“ Und ins Telephon gab er den Befehl: „Komm sofort herauf!“
Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hie und da den Griff und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was bei seinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel vor Karls Augen verursachte. Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte er auch den Befehl bekommen ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch hie und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb fragend zum Oberkellner sagte: „Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle.“
Es war eine Erlösung für Karl, als der oberste der Liftjungen, ein gewisser Bess, ein ewig fauchender dicker Junge eintrat und die Aufmerksamkeit des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Karl war so ermattet, daß er kaum grüßte, als er zu seinem Staunen hinter dem Jungen Therese leichenblaß, unordentlich angezogen, mit lose aufgesteckten Haaren hereinschlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihm und flüsterte: „Weiß es schon die Oberköchin?“ „Der Oberkellner hat es ihr telephoniert“, antwortete Karl. „Dann ist schon gut, dann ist schon gut“, sagte sie rasch mit lebhaften Augen. „Nein“, sagte Karl, „Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich muß weg, die Oberköchin ist davon auch schon überzeugt. Bitte bleib nicht hier, geh hinauf, ich werde mich dann von Dir verabschieden kommen.“ „Aber Roßmann, was fällt Dir denn ein. Du wirst schön bei uns bleiben, so lange es Dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin zufällig erfahren. Da sei nur ruhig.“ „Bitte Therese geh jetzt weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen wenn Du hier bist. Und ich muß mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto mehr Hoffnung ist, daß ich bleibe. Also, Therese –“ Leider konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen leise hinzuzufügen: „Wenn mich nur dieser Oberportier loslassen würde! Ich wußte gar nicht daß er mein Feind ist. Aber wie er mich immerfort drückt und zieht.“ „Warum sage ich das nur!“ dachte er gleichzeitig, „kein Frauenzimmer kann das ruhig anhören“ und tatsächlich wendete sich Therese, ohne daß er sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können, an den Oberportier: „Herr Oberportier bitte lassen Sie doch sofort den Roßmann frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich kommen und dann wird man schon sehn, daß ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen Sie ihn los, was kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen ihn zu quälen.“ Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand. „Befehl kleines Fräulein, Befehl“, sagte der Oberportier und zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während er mit der andern Karl nun sogar angestrengt drückte, als wolle er ihm nicht nur Schmerzen machen, sondern als habe er mit diesem in seinem Besitz befindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.
Therese brauchte einige Zeit um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden und wollte sich gerade beim Oberkellner, der noch immer von dem sehr umständlichen Bess sich erzählen ließ, für Karl einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat. „Gottseidank“, rief Therese und man hörte einen Augenblick im Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schob Bess zur Seite: „Sie kommen also selbst Frau Oberköchin. Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telephongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen aber dafür einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst!“ Und er winkte Bess herbei. „Ich möchte zuerst paar Worte mit dem Roßmann reden“, sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hiezu nötigte. „Karl bitte komm näher“, sagte sie dann. Karl folgte oder wurde vielmehr vom Oberportier nähergeschleppt. „Lassen Sie ihn doch los“, sagte die Oberköchin ärgerlich, „er ist doch kein Raubmörder.“ Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorher noch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die Augen traten.
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