Es gab drei Gründe, auf die Insel überzusetzen. Der erste war, dass man einfach hier wohnte, der zweite, dass man beim Regisseur zu Besuch war, der dritte, dass man wegen der Windmühle gekommen war, um sich gegenseitig davor zu fotografieren.
Die Fähre brauchte zwanzig Minuten. Während dieser Zeit stiegen einige Passagiere aus den Autos und rauchten eine Zigarette, obwohl das verboten war. Andere standen an die Reling gelehnt und starrten einfach ins Wasser, bis sich ihr schaukelnder Blick endlich am anderen Ufer wieder festmachen konnte. Gleich werden sie, vom Geruch des Festlands und ihren ungeheuer wichtigen Pflichten und Aufgaben erregt, in den Gassen am anderen Ufer verschwinden, sich verlaufen wie die neunte Welle, die am weitesten reicht, in die Erde versickert und nie mehr ins Meer zurückkehrt. Doch andere kommen an ihrer Stelle. Der Tierarzt im eleganten Geländewagen, den hat er sich mit dem Sterilisieren von Katzen verdient. Eine Schulklasse auf Ausflug, die im Rahmen einer Biologieexkursion Flora und Fauna der Insel untersuchen wird. Ein Lieferwagen mit einer Ladung Bananen und Kiwi. Ein Fernsehteam, das zu einem Interview zum Regisseur fährt. Familie G., die gerade vom Besuch bei der Großmutter heimkehrt. Zwei erhitzte Fahrradfahrer anstelle der beiden anderen.
Das Ent- und Beladen der Fähre dauerte fast eine Stunde. In dieser Zeit rauchte Eryk mehrere Zigaretten und versuchte, nicht zu verzweifeln. Dann kehrte die Fähre auf die Insel zurück. Und so ging es acht Mal am Tag, mit einer zweistündigen Pause zum Mittagessen, das Eryk jedes Mal in derselben Kneipe aß. Eine von drei Kneipen in der Gegend. Nach der Arbeit kaufte er Kartoffeln, Zwiebeln und Speck. Zigaretten und Alkohol. Er versuchte immer, bis zum Nachmittag nichts zu trinken, aber nach der sechsten Überfahrt war er schon voll.
Gerade Strecken – wie demütigend sie sind. Wie sie den Geist abtöten. Was für eine perfide Geometrie, die uns zu Idioten macht – hin und her, die Parodie einer Reise. Aufbrechen, um gleich darauf zurückzukehren. Beschleunigen, um sofort abzubremsen.
Eryks kurze stürmische Ehe war auch so gewesen. Maria war geschieden, sie arbeitete in einem Laden und hatte einen Sohn, der in der Stadt auf die Mittelschule ging und dort auch im Internat war. Eryk zog bei ihr ein, in ihr gemütliches hübsches Haus mit riesigem Fernseher. Sie hatte eine schlanke Taille, üppige Rundungen, helle Haut, und sie trug eng anliegende Leggings. Rasch lernte sie, Kartoffeln auf Speck zuzubereiten und gab noch Majoran und Muskatnuss dazu. Er hackte dafür an seinen freien Tagen mit Begeisterung Holz für den Kamin. Es hielt anderthalb Jahre, dann ging ihm alles auf die Nerven: das unablässige Murmeln des Fernsehers, das grelle Licht, der Lappen neben dem Aufwischtuch, auf den man die schmutzigen Schuhe stellen musste, und auch die Muskatnuss. Als er sich ein paarmal betrunken und den Matrosen mit erhobenem Finger Ansprachen gehalten hatte, warf sie ihn aus dem Haus und zog bald darauf zu ihrem Sohn aufs Festland.
*
Es war der 1. März, Aschermittwoch. Als Eryk die Augen aufschlug, sah er das graue Licht und Schneeregen, der auf den Scheiben schmierige Spuren hinterließ. Sein alter Name fiel ihm ein. Er hatte ihn fast vergessen. Er sprach ihn laut aus, und es hörte sich an, als hätte ein Fremder ihn gerufen. Im Kopf verspürte er den wohlbekannten Druck nach dem gestrigen Betrinken.
Wir müssen nun wissen, dass die Chinesen zwei Namen haben. Der eine wird von den Eltern gegeben, mit ihm wird das Kind gerufen, gerügt, zur Ordnung gemahnt und auch in zärtlichen Koseformen angesprochen. Doch wenn das Kind hinaus ins Leben geht, sucht es sich einen anderen Namen aus, einen äußeren, weltlichen Namen, eine Namen-Person. Diesen Namen legt es an wie eine Uniform, wie ein Chorhemd, einen Kampfgürtel, Kleidung für einen offiziellen Cocktailempfang. Dieser Name ist praktisch und leicht zu merken. Von nun an wird er von dem Menschen zeugen. Je weltweiter, universaler, leichter wiederzuerkennen er ist, umso besser. Fort mit der lokalen Begrenztheit unserer Namen. Fort mit Oldrzich, Sung Yin, Kazimierz und Jyrek, fort mit Blazen, Liu und Milica. Es lebe Michael, Judith, Anna, Jan, Samuel und Eryk!
Und heute antwortete Eryk auf den Ruf bei seinem alten Namen: Hier bin ich.
Niemand kennt ihn, deshalb werde ich ihn auch nicht nennen.
Der Mann namens Eryk zog seine grüne Uniform mit den Abzeichen der »Vereinigten Fähren des Nordens« an, kämmte sich mit den Fingern durch den Bart, schaltete in seinem verkümmerten Häuschen die Heizung aus und machte sich auf den Weg an der asphaltierten Straße entlang. Während er in seinem Glaskasten das Beladen der Fähre abwartete, trank er ein Bier aus der Dose und steckte sich die erste Zigarette an. Von oben winkte er Eliza und ihrer kleinen Tochter zu, ganz freundschaftlich, als wollte er sie dafür entschädigen, dass sie heute den Kindergarten nicht erreichen würden.
Als die Fähre vom Ufer abgelegt hatte und schon auf halbem Wege zwischen den beiden Anlegestellen war, zögerte er plötzlich und nahm dann Kurs aufs offene Meer.
Nicht jeder merkte, was los war. Manche waren so an die Routine der geraden Strecke gewöhnt, dass sie abgestumpft und gleichgültig auf den sich entfernenden Küstenstreifen blickten, was mit Sicherheit Eryks alkoholisierte Theorien bekräftigte, dass das Reisen auf Fähren die Gehirnwindungen geradebiegt. Andere merkten nach kurzer Zeit, was geschah.
»Eryk, was machst du da! Kehr sofort um!«, schrie Alfred ihm zu, und Eliza schaltete sich mit hoher kreischender Stimme ein: »Die Leute werden zu spät zur Arbeit kommen!«
Alfred wollte zu Eryk hinaufsteigen, doch der hatte die kleine Pforte vorsichtshalber geschlossen und den Schlüssel in seiner Kabine herumgedreht.
Er sah von oben, wie alle gleichzeitig ihre Mobiltelefone hervorholten und anriefen, empört etwas in den leeren Raum sprachen und dazu aufgeregt gestikulierten. Er konnte sich denken, was sie sagten. Dass sie sich zur Arbeit verspäten würden, dass sie gespannt sind, wer ihnen eine Entschädigung für den seelischen Schaden bezahlen wird, dass man nicht solche Trunkenbolde einstellen dürfte, dass alle wussten, dass es so enden würde, dass es nicht genug Arbeit für die Einheimischen gebe, während hier solche Immigranten eingestellt würden; egal wie gut so einer die Sprache gelernt hätte, es blieb doch immer ein …
Eryk kümmerte sich einfach nicht darum. Befriedigt stellte er fest, dass sie sich nach einiger Zeit beruhigten, sich auf ihre Plätze setzten und zuschauten, wie der Himmel aufklarte und zwischen den Wolken schöne Lichtgarben direkt ins Meer fallen ließ. Nur eines machte ihm Sorgen, und zwar das hellblaue Mäntelchen von Elizas Tochter, das war (wie jeder Seewolf wusste) auf einem Schiffsdeck ein schlechtes Omen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, nicht dran zu denken. Er nahm Kurs auf den Ozean und brachte den Fahrgästen eine Kiste Cola und Salzstangen hinunter, die er schon lange für diesen Anlass besorgt und bereitgestellt hatte. Offensichtlich tat ihnen dieser kleine Imbiss gut, denn die Kinder, den Blick auf die immer ferner entschwindende Küste der Insel geheftet, wurden still, und die Erwachsenen zeigten wachsendes Interesse an der Reise.
»Wohin hast du Kurs genommen?«, fragte der Jüngere der Brüder T. und musste von der Cola aufstoßen.
»Wie lange brauchen wir, bis wir aufs offene Meer kommen?«, fragte die Kindergärtnerin Eliza.
»Haben Sie auch an einen Vorrat an Treibstoff gedacht?«, erkundigte sich der alte Herr S. mit den kranken Nieren.
Zumindest kam es Eryk so vor, als sagten sie das und sonst nichts. Er bemühte sich, sie nicht anzuschauen und nicht nervös zu werden. Er hatte den Blick schon auf die Linie des Horizonts gerichtet, der bis jetzt seine Augen in zwei Hälften geschnitten hatte: eine, die vom Wasser dunkel, und die andere, die vom Wasser hell war. Die Passagiere hatten sich ja auch beruhigt. Sie drückten sich die Mützen in die Stirn, banden ihre Schals enger. Man könnte sagen, sie fuhren in völliger Stille dahin, bis das Knattern eines Hubschraubers und das Heulen von Polizeibooten diese durchschnitt.
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