»Zum Teufel! Dieser Alte, das ist vielleicht ein famoser Kerl!«, rief beispielsweise der Azorenmatrose aus, wenn einer ihnen ein Päckchen durchweichter Zigaretten in die Zelle geschmuggelt hatte.
»Bei meiner Seel, ich bin beinah derselbigen Meinung, also sprich den Segen!«
Ihnen war es nur recht, wenn jeder Neue, der zu ihnen in die Zelle kam, anfangs kaum etwas verstand, er wurde ihr Fremder, den sie für ihr soziales Ersatzleben brauchten.
Jeder von ihnen hatte seine Lieblingsabschnitte, die er abends bei ihrem Leseritual vortrug, bis die anderen gegen Schluss im Chor einfielen.
Doch die Hauptthemen der Gespräche in ihrem immer besseren Englisch waren das Meer, die Seereisen, das Ablegen vom Ufer, das Vertrauen auf das Wasser, das – wie sie nach einer mehrtägigen Diskussion, die den Vorsokratikern alle Ehre gemacht hätte, feststellten – das wichtigste Element auf dem Erdenrund war. Sie planten schon die Strecken für die Heimreise, bereiteten sich auf die Anblicke vor, die sich ihnen unterwegs bieten würden, formulierten in Gedanken das Telegramm an die Familie. Wovon würden sie leben? Sie überboten sich gegenseitig an Einfällen, doch ehrlich gesagt kreisten sie immer um ein und dasselbe Thema, ohne sich dessen bewusst zu sein, waren sie bereits angesteckt, hatten sich infiziert: Was ihr Denken beherrschte, war die bloße Möglichkeit, dass so etwas wie ein weißer Wal existierte. Jeder wusste, dass es noch Länder gab, in denen Walfang betrieben wurde, und auch wenn diese Arbeit heute nicht mehr so romantisch war, wie Ishmael es beschrieben hatte, würde man doch schwerlich eine bessere finden. Angeblich suchte man in Japan Leute für den Walfang. Was waren Dorsche und Heringe schon gegen Wale … Wie ein Handwerk gegen die Kunst …
In sechsunddreißig Monaten hat man viel Zeit, sich die Einzelheiten des zukünftigen Lebens zu überlegen, Punkt für Punkt, und sie mit den Kameraden zu besprechen. Meinungsverschiedenheiten spielten keine Rolle.
»Jetzt mal schnell Schluss damit! Denk dran, was ich dir sage von wegen Handelsmarine – mach mich nicht wild – das mag ich nicht. Aber wir wollen uns recht verstehen. Ich hab dir einen Wink gegeben, von wegen, was es mit dem Walfang auf sich hat; habest du trotzdem noch Lust drauf?«
»Was hast du schon von der Welt gesehen!«, fuhr der portugiesische Matrose erwidernd auf.
»Die Nordsee hab ich der Länge und Breite nach durchschifft, die Ostsee ist mir nicht fremd. Die Strömungen im Atlantik kenne ich so gut wie meine eigenen Adern …«
»Du bist dir etwas zu gewiss, mein Brüderchen.«
Dazu muss man etwas wissen.
Zehn Jahre – so lange dauerte Eryks Reise nach Hause, und wahrscheinlich schaffte er es noch schneller als seine Kameraden. Er kehrte auf Umwegen zurück, über abgelegene Meere, durch die engsten Meerengen und die breitesten Buchten. Kaum leckte das offene Meer an einer Flussmündung, kaum hatte er auf einem Schiff nach Hause angeheuert, da bot sich plötzlich eine neue Gelegenheit, die ihn meistens in die entgegengesetzte Richtung führte, und wenn er einen Augenblick überlegte, kam er immer wieder zu dem Schluss, dass die größte Wahrheit doch in dem alten Argument liege, das heißt: Die Erde ist rund, legen wir uns nicht auf eine Richtung fest! Das war auch irgendwie verständlich – für jemanden, der von nirgendwo kommt, wird jede Bewegung zur Rückkehr, denn nichts hat eine solche Anziehungskraft wie die Leere.
In jenen Jahren arbeitete er unter panamaischer, australischer und indonesischer Flagge. Auf einem chilenischen Frachter brachte er japanische Autos in die Vereinigten Staaten. Auf einem südafrikanischen Tanker erlebte er eine Katastrophe an der Küste von Liberia. Er brachte Arbeiter von Java nach Singapur. Er bekam Gelbsucht und lag in Kairo im Krankenhaus. Als ihm in Marseille bei einer betrunkenen Prügelei eine Hand gebrochen wurde, trank er monatelang keinen Tropfen Alkohol, um sich in dann in Malaga bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen und die andere zu brechen.
Wir wollen nicht ins Detail gehen. Eryks wechselvolles Schicksal auf den Meeren interessiert uns nicht. Lieber wenden wir uns ihm zu dem Zeitpunkt zu, als er endlich am Ufer jener ihm später so verhassten Insel ankommt und auf einer kleinen primitiven Fähre zwischen den Schären Arbeit bekommt. Bei der Ausübung dieser – seiner Meinung nach erniedrigenden – Arbeit magerte Eryk ab, ja auf gewisse Weise bleichte er aus. Die tiefe Bräune wich für immer aus seinem Gesicht und hinterließ dunkle Flecken. Die Schläfen ergrauten, kleine Falten ließen seinen Blick durchdringend und scharf erscheinen. Nach dieser Einführung, die schmerzlich in sein Seelenleben eingriff, wurde er auf eine verantwortungsvollere Strecke versetzt: Jetzt steuerte er eine Fähre, die die Insel mit dem Festland verband, sie fuhr nicht an einem Seil, und das breite Deck konnte sechzehn PKW aufnehmen. Die Arbeit garantierte ihm ein festes Einkommen, Krankenversicherung und ein ruhiges Leben auf dieser Insel im Norden.
Jeden Morgen nach dem Aufstehen wusch er sich mit kaltem Wasser und kämmte mit den Fingern seinen grauen Bart. Dann zog er die dunkelgrüne Uniform der Fährgesellschaft »Vereinigte Fähren des Nordens« an und marschierte zum Hafen, wo er seine Fähre am Vorabend vertäut hatte. Kurz darauf öffnete einer vom Landpersonal – Robert oder Adam – die Pforte, und die ersten Autos standen schon in einer Reihe, um über die Eisenrampe auf Eryks Fähre zu fahren. Es war immer genug Platz, manchmal kam es sogar vor, dass die Fähre leer war, sauber, leicht, schwebend. Dann setzte sich Eryk in seine Kabine in der Höhe, hockte in seinem verglasten Krähennest, und das Ufer auf der anderen Seite erschien ihm nah. Wäre es nicht besser, eine Brücke zu bauen, als von den Leuten zu erwarten, dass sie sich mit der Hin- und Herfahrerei abplagten?
Die Gemütsverfassung war wichtig. Jeden Tag konnte er zwischen zweien auswählen. In der einen – penetrant und aufdringlich – war er schlechter als andere, ihm fehlte das, was jeder hatte, auf eine gewisse Weise war er abnorm und wusste zum Teufel noch nicht mal, was ihm fehlte. Er fühlte sich isoliert, einsam, wie ein zur Strafe eingesperrtes Kind, das aus dem Fenster den Spielen seiner glücklichen Altersgenossen zuschaut. Das Schicksal hatte ihm eine nichtssagende Rolle in den chaotischen Wanderungen der Menschheit zu Lande und zur See zugeteilt, und jetzt, seit er sich auf der Insel niedergelassen hatte, erwies sich seine Rolle auch in dieser Episode als die eines Statisten.
Die andere Gemütsverfassung hingegen bekräftigte in ihm die Überzeugung, dass er der Bessere war, einzigartig und außerordentlich. Dass er allein die Wahrheit fühlte und verstand, dass nur ihm ein außergewöhnliches Dasein zuteilgeworden war. Dieses gute Selbstwertgefühl konnte manchmal ganze Stunden, ja Tage anhalten, und dann fühlte er sich sozusagen fast glücklich. Aber das verging wie ein Alkoholrausch. Als Katzenjammer stellte sich der erschreckende Gedanke ein, dass er, wollte er in seinen eigenen Augen ein achtenswerter Mensch sein, unentwegt auf diese zwei Arten Betrug begehen müsste, und – was am schrecklichsten war – eines Tages würde die Wahrheit ans Licht kommen, und es würde sich herausstellen, dass er niemand war.
Er saß in der verglasten Kabine und sah zu, wie sich die erste Morgenfähre füllte. Er sah die alten Bekannten aus dem Städtchen. Da war die Familie R. in ihrem grauen Opel, der Vater arbeitete im Hafen, die Mutter in der Bibliothek, die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, gingen zur Schule. Und da waren die vier Teenager, Gymnasiasten, die auf der anderen Seite mit dem Autobus weiterfuhren. Und Eliza war da, die Kindergärtnerin, mit ihrer kleinen Tochter, die sie natürlich mit zur Arbeit nahm. Der Vater der Kleinen war vor zwei Jahren plötzlich verschwunden und hatte seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Eryk hatte den Verdacht, dass er irgendwo auf Walfang war. Und der alte S. kam, er hatte es an den Nieren, dreimal in der Woche musste er zur Dialyse ins Krankenhaus. Er und seine Frau hatten versucht, ihr kümmerliches Holzhäuschen zu verkaufen und näher ans Krankenhaus zu ziehen, aber es hatte nicht geklappt. Der Lieferwagen des Bioladens fuhr aufs Festland, um Ware einzukaufen. Ein schwarzes fremdes Fahrzeug, bestimmt Gäste des Regisseurs. Der gelbe Lastwagen der Brüder Albert und Albrecht, die mit der Hartnäckigkeit von Junggesellen Schafe hielten. Zwei verfrorene Fahrradfahrer. Der Kombi von der Autowerkstatt – wahrscheinlich sollte er Ersatzteile holen. Edwin winkte Eryk mit der Hand. Man hätte ihn auf jeder Insel der Welt erkennen können – er trug gern karierte Hemden mit Kunstpelzbesatz. Eryk kannte sie alle, sogar diejenigen, die er zum ersten Mal sah – er wusste, warum sie hier hergekommen waren, und wenn man das Ziel der Reise kennt, weiß man schon ausreichend viel über Menschen.
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