Und obwohl ich so viel tat, um das Wesen der Schauspielkunst zu begreifen, wurde ich nie das Gefühl los, dass der Zufall meine Vorbereitung und mein Spiel bestimmte – das Resultat war Stückwerk, im besten Fall eine gute Collage. Mir fehlte die Sicherheit, die auf einem soliden Fundament gründet und eine freie Entfaltung ermöglicht. Mir fehlte auch die Anleitung zum Erlernen eines Handwerks, mit dessen Hilfe ich mein künstlerisches Ausdrucksvermögen hätte weiterentwickeln können. Doch das sollte sich ändern. In den zwei Jahren meines Studiums bei William Esper setzte ich mich intensiv mit der von Sanford Meisner entwickelten Technik auseinander und trainierte, trainierte, trainierte – bis ich schließlich eine künstlerische Befreiung erlebte. Mein bis dahin bemühtes Spiel wurde leicht und wahrhaftig. Ich hatte ein Handwerk erlernt, das mir zu Freiheit im Spiel und Freude am Spiel verhalf. Ich hatte gelernt, was eine gute Vorbereitung ist und im Moment des Spielens loszulassen, der Vorbereitung und dem Reagieren im Moment zu vertrauen.
Ein nicht zu gering einzuschätzender Anteil an der gewonnenen Freiheit ging auch auf ein neu verinnerlichtes Verständnis zurück: Im Englischen bedeutet to act handeln und actor Handelnder.
Im Zentrum der Meisner-Technik steht das Handeln unter imaginären Gegebenheiten. Ehrliches Verhalten und wahrhaftige Gefühle sind die Folge des wirklichen Handelns. Kontext, Beziehung, Ziel etc. bestimmen das Verhalten.
Was genau damit gemeint ist und wie interessierte Akteure diese Technik erlernen und anwenden können, um ihr Potential zu entfalten, davon erzählt dieses Buch. Es wird Ihnen zu größerer Freiheit, zu Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und nicht zuletzt zur Freude am Spiel verhelfen.
André Bolouri
André Bolouri studierte von 2008 bis 2010 bei William Esper in New York. Seit 2010 ist er künstlerischer Leiter des Meisner-Jahresprogramms in seinem Berliner Studio ( www.studio-ab.de), wo er die Meisner-Technik lehrt. Seit 2000 arbeitet er regelmäßig mit einem internationalen Ensemble in Kalifornien, das klassische Theaterstücke auf die Bühne bringt. Von 2005 bis 2008 war er Leiter dieses Theaterensembles. In den Jahren davor arbeitete er als Schauspieler und Regieassistent, u. a. bei Yoshi Oida. Seine Grundausbildung erhielt er von 1995 bis 1998 an der Fritz-Kirchhoff-Schauspielschule (Der Kreis) in Berlin.
Vor vierzig Jahren hatte ich das Glück, während meines Studiums an der Neighborhood Playhouse School einem großen Lehrer zu begegnen.
Sanford Meisner war der Leiter der Schule, und wir alle nahmen Unterricht bei ihm; der große Lehrer aber war Bill Esper. Erwähnt man seinen Namen gegenüber seinen Schülern aus den vergangenen Jahrzehnten, strahlen ihre Augen.
Ich lese sein wundervolles Buch und werde zurückversetzt in meine Studienzeit – dieselben Worte, die gleichen sokratischen Fragen, sanft und leicht, die die Schüler zu einem tieferen Verständnis einladen.
Ich habe mein Leben damit verbracht, mit Schauspielern zu arbeiten. Dazu braucht man nur einige wesentliche Werkzeuge, die zu beherrschen die herausfordernde Aufgabe eines Lebens ist: geduldig sein, konkret sein, prägnant sein, ermutigen, vorschlagen, loben, zuhören. Zum ersten Mal habe ich diese Werkzeuge durch Bill Esper kennengelernt, und ich bin sehr dankbar dafür.
David Mamet
David Mamet , geboren 1947 in Chicago, ist ein international erfolgreicher Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur.
Wenn einer wirklich Meister einer Kunst sein möchte, reicht technische Kenntnis nicht aus. Man muss die Techniken transzendieren, damit die Kunst eine »kunstlose Kunst« wird, die dem Unbewussten entspringt.
ZEN-MEISTER D. T. SUZUKI
In meinem letzten Jahr am College nahm mich ein Theaterlehrer zur Seite und sagte: »Ich weiß, dass du Schauspieler werden willst und du hast viel Talent. Aber Talent ist wie Wasser. Ohne ein Gefäß ist es nutzlos.«
»Was ist das richtige Gefäß für Talent?«, fragte ich.
Mein Lehrer antwortete: »Technik.«
»Gut«, sagte ich, »dann lerne ich Technik. Wohin muss ich dafür gehen?«
»Wenn du dir schon die Mühe machst, lernst du besser bei den Besten und studierst bei einem Meisterlehrer.«
»Sagen Sie mir, wo es solche Meisterlehrer gibt, und ich lerne bei ihnen«, sagte ich. Und so kam es, dass ich mir Tage später das Auto eines Freundes borgte und zur Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, fuhr, zu der die Mason Gross School of the Arts gehörte, um William (Bill) Esper zu treffen.
Er war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Vermutlich hatte ich mir einen Meisterlehrer für Schauspiel als flotte Erscheinung mit Baskenmütze und Mephisto-Ziegenbärtchen vorgestellt. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, einen freundlichen, ruhigen Mann mit graumeliertem Haar zu sehen, der mich in sein enges Büro der Mason Gross School winkte. Das war der berühmte William Esper? Unmöglich. Dieser Mann war ein ganz normaler Mensch, mit einem sauber gestutzten Kinnbart und durchdringenden Augen hinter einer Brille.
Wir haben uns ungefähr fünfundvierzig Minuten unterhalten, und ich bin mir sicher, dass ich mich viel zu sehr darum bemüht habe, einen guten Eindruck zu hinterlassen, denn ehrlicherweise kann ich mich an kein einziges Wort von Bill Esper erinnern. Außer an eine Sache: Gegen Ende unseres Gesprächs fragte mich Bill: »Warum willst du gerade hierher kommen? Warum willst du bei mir studieren?«
Ich sagte: »Ich habe die Meisner-Technik ein wenig am College studiert und sie hat mir sehr geholfen. Jetzt will ich sie von Grund auf lernen.«
Bill antwortete nicht. Er saß einfach nur da und sah mich an. Schließlich sagte er sehr leise: »Wenn du hierherkommst, wirst du nicht die Meisner-Technik lernen. Du wirst meine Technik lernen. Die William-Esper-Technik. Und, so Gott will, verlässt du den Unterricht, wenn du hier fertig bist, mit deiner eigenen Technik. Verstehst du das?«
Das habe ich nicht. Nicht wirklich. Aber ich war jung. Ich log. Ich nickte und sagte: »Ja.«
***
Jetzt, mehr als zehn Jahre später, bat mich Bill, ihn zu besuchen. Die Tür zu seinem Studio öffnet sich und ich durchschreite einen kleinen Vorraum mit rot gestrichenen Wänden, der direkt in sein Büro übergeht. Es ist ein enges, vollgestopftes, kleines Zimmer, und das Erste, was mir auffällt, ist der Metallschirmständer hinter der Tür. Mit drei Regenschirmen, einem lädierten Varieté-Spazierstock, einem Louisville-Baseballhandschuh und einem Florett. Das ist sicherlich das Zimmer eines Schauspielers.
Ich blicke auf. Bücherregale bedecken die Wand hinter Bills Schreibtisch vom Boden bis zur Decke. Die Holzbretter biegen sich unter dem Gewicht seiner Bibliothek. Die Regale sind an unmöglichen Stellen mit Spiralheften vollgestopft. Aktenordner ragen hervor wie ausgestreckte Zungen, jeder zum Platzen voll mit scheinbar lebenslang hingekritzelten Überlegungen. Krimskrams aus aller Welt findet sich ebenfalls in den Regalen. Manches davon hat früher wohl als Requisite in einem Stück gedient: ein mit Glassteinen besetztes Lederarmband, ein Haarschmuck aus Federn, eine weiße Flötenvase mit einer einzigen Seidenrose, die wie ein leuchtend roter Komet daraus hervorbricht. Ein winziger Blechkasten steht neben einer abgegriffenen, blau gebundenen Ausgabe von Webster’s Unabridged English Dictionary . Hier und da stehen geschnitzte Holzpferde – sie scheinen als kleine Wächter dieser vielseitigen Bibliothek zu dienen.
Mein Lehrer sitzt hinter seinem überfüllten Schreibtisch und liest die Tageszeitung. Er schaut auf. »Ich hoffe, das ist ein guter Ort für uns, um zu arbeiten«, sagt er. Keine weiteren einleitenden Worte, obwohl wir uns seit Jahren nicht gesehen haben.
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