© 2018 by Catra Corbett and Dan England
Original title: REBORN ON THE RUN,
published by Skyhorse Publishing, 307 West 36 thStreet, 11 thFloor, New York, NY 10018
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© der deutschsprachigen Ausgabe:
egoth verlag GmbH, 2021
Untere Weißgerberstr. 63/12, A-1030 Wien
ISBN: 978-3-903183-46-9
ISBN E-Book: 978-3-903183-87-2
Übersetzung aus dem Englischen: Alison Flint-Steiner und Robert Steiner
Lektorat: Dr. Rosemarie Konrad
Grafische Gestaltung und Satz: Dipl. Ing. (FH) Ing. Clemens Toscani
Coverbild und alle weiteren Bilder: © Catra Corbett
Printed in the EU
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.
1. Auflage im April 2021
CATRA CORBETT
MEIN WEG AUS DER SUCHT ZUM ULTRAMARATHON
Aus dem Englischen von Alison Flint-Steiner und Robert Steiner
BLUT, BLASEN UND VIELE, VIELE TRÄNEN
EINE NACHT IM GEFÄNGNIS HINTERLÄSST IHRE SPUREN
PAPAS MÄDCHEN
MEINE ERSTEN SCHRITTE
DÜNNER MIT JEDEM BISSEN
ZURÜCK ZUR SCHULE
MISSBRAUCHT
ABGEHÄRTET
MEIN WEG ZUR ULTRALÄUFERIN
BISSEN FÜR BISSEN
DAS RENNEN, DAS ICH MIT MEINEM VATER TEILTE
DER LANGE WEG
GANZ ALLEIN
YOSEMITE: MEINE CHANCE AUF EIN NEUES LEBEN
MIT MEINEM LIEBSTEN DURCH DIE HÖLLE
REKORD AM JOHN MUIR TRAIL
HÖHEN UND TIEFEN AM PACIFIC CREST
ZWEIMAL DEM TOD ENTRONNEN
MEINE DACKEL
100-MAL 100 MEILEN
EIN RENNEN FÜRS LEBEN
EIN NEUES JAHR – DANK DES LAUFENS
MEIN ERSTER ULTRAMARATHONvon Dan England
DANKSAGUNG
KAPITEL 1
BLUT, BLASEN UND VIELE, VIELE TRÄNEN
Skeptisch blickte der Sanitäter auf meine Füße. Mein Freund platzte mit der Frage heraus, die keiner stellen wollte.
„Das war’s dann für dich, oder?“, sagte Kevin zu mir.
Es war eine Frage, die mich richtiggehend wütend machte, doch zu diesem Zeitpunkt konnte ich ihm seine Reaktion nicht verdenken. Ich war gerade 60 Meilen gelaufen, zehn Meilen mehr als jemals zuvor, und hatte noch immer 40 Meilen vor mir. Kein Mensch hätte mir geraten weiterzumachen, wenn er den Zustand meiner Füße gesehen hätte. Verdammt, ich wusste ja selbst, dass es wahrscheinlich besser wäre aufzuhören.
Doch ich musste einfach weitermachen.
Kevin sah über die Schulter des Sanitäters, als dieser mir die Socken von den Füßen schälte. Beide holten tief Luft.
Auf meinen Fußballen hatten sich mehrere Blasen in der Größe einer Zwei-Euro-Münze gebildet, dazu waren meine Fersen mit Blasen übersät, und auch meine Zehen waren von vielen kleinen schmerzhaften, mit Flüssigkeit gefüllten Bläschen bedeckt. Eine der großen Blasen war bereits geplatzt und sonderte eine klare Flüssigkeit ab, die mir über die Ferse lief. Während Kevin dastand und fassungslos den Kopf schüttelte, begann der Sanitäter nun auch damit, die anderen Blasen zu öffnen.
Es war mein erstes 100-Meilen-Rennen, und es stand bereits fest, dass ich noch viel zu lernen hatte. Ich hatte einige Fehler begangen. So kam ich zum Beispiel fast zu spät zum Start, da ich mir noch in letzter Minute eine Taschenlampe in einem Supermarkt besorgen musste. Bis dahin war es mir nämlich nicht in den Sinn gekommen, dass ein 100-Meilen-Lauf bis tief in die Nacht und länger dauern könnte.
Und nun litt ich unter den Folgen meines schwersten Fehlers. Ich lief den Rocky Raccoon 100 in Huntsville, Texas, in einer Gegend, über die ich überhaupt nichts wusste. Ich selbst lebe ja in Kalifornien und hatte nicht die geringste Ahnung, dass die Luftfeuchtigkeit in Texas meine Füße wie einen mit Wasser vollgesogenen Schwamm anschwellen lassen würde. Ich hatte mehrere Paar Socken gekauft, denn ich wusste, dass man sie während eines Rennens öfters wechseln muss, aber ich hatte nicht gewusst, dass auch die Laufschuhe eine halbe Nummer größer sein sollten, um genügend Platz für meine geschwollenen Füße zu haben.
Da die Luft in Kalifornien viel trockener ist, hatte ich diese Probleme zuvor nicht gehabt. Auch hatte ich niemals zuvor Blasen bekommen. Doch nun verwandelten die Schuhe meine Füße in zartes Hamburgerfleisch.
Die Miene des Sanitäters verfinsterte sich, als er weiter an meinen Füßen zugange war. Obwohl er beim ersten Anblick meiner blasenübersäten Füße etwas erschrocken gewesen war, so war er ja Sanitäter bei einem Ultrarunnig-Wettbewerb und hatte wahrscheinlich schon viel Schlimmeres gesehen (das hoffte ich zumindest). Ich seufzte erleichtert auf, als die Flüssigkeit aus den bis zum Bersten vollen Blasen herausspritzte. Danach umwickelte er meine Füße mit Klebeband. Ja, dieses breite, silberne Klebeband, das man für Reparaturen im Haushalt verwendet, für undichte Wasserrohre oder kaputte Türgriffe. Bis zu jenem Moment wusste ich nicht, dass man damit auch nässende Blasen reparieren kann, doch das war nur eines der Dinge, die ich als Ultraläuferin noch zu lernen hatte. Das Klebeband fixierte die lose Haut der Blasen an meinen Füßen, und als ich aufstand, um zu sehen, wie es sich anfühlte, hatte ich das erste Mal seit Stunden wieder ein Gefühl der Erleichterung.
Also nein, Kevin, das war’s noch nicht für mich.
Wie die meisten Leute hatte ich mit dem Laufen begonnen, um gesund zu werden. Ich tauschte nächtelange Raves gegen morgendliches Laufengehen, und obwohl ich den Rausch des Tanzens bis zum Morgengrauen vermisste, war es keine Option für mich, meine Laufschuhe in die Ecke zu stellen. Wie viele begann ich damit, einmal um den Häuserblock zu laufen, was mich beinahe umbrachte. Am nächsten Tag ging ich wieder und merkte, dass ich es diesmal etwas weiter schaffte, bevor ich wieder beinahe tot umfiel. Ultramarathons entdeckte ich erst einige Jahre, nachdem ich zur Läuferin geworden war, und das eher zufällig. Diese unfassbar langen Rennen zogen mich in ihren Bann. Sie waren die Lösung, die ich gesucht hatte, um mein Leben umkrempeln zu können.
Vier Jahre nachdem ich mit dem Laufen begonnen hatte, nahm ich an meinem ersten 100-Meilen-Rennen teil. Nur drei Monate zuvor hatte ich meinen zweiten 50-Meilen-Lauf im Napa Valley, in der Nähe meines Wohnorts im Norden Kaliforniens, hinter mich gebracht. Das Rennen hatte damals bei heftigem Regen stattgefunden, und ich war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Leib, doch ich hatte Vertrauen in mich selbst. Ich wurde Letzte, aber viele weitaus erfahrenere Ultraläufer als ich hatten das Rennen aufgegeben. Ich war weitergelaufen. Also dachte ich, wenn ich bei miserablen Wetterbedingungen 50 Meilen laufen konnte, während ich (manchmal auch erfolglos) versuchte, den hüfttiefen Matschlachen auszuweichen, dann könnte ich auch 100 Meilen schaffen.
Das nahm ich zumindest an.
Den Rocky Raccoon wählte ich dann zufällig aus – ich las davon auf der Rückseite eines Ultraläufermagazins. Das war 1999, und zu jener Zeit gab es nur eine Handvoll 100-Meilen-Rennen im ganzen Land (mit Stand 2017 gibt es 17 100-Meilen-Läufe allein in Kalifornien). Ich hatte Glück, denn dieser UItratrail gilt als ein gutes Einsteigerrennen. Der Großteil des Laufes verläuft durch den Huntsville State Park, direkt im Norden von Houston. Nach fünf Runden durch Wald- und Sumpflandschaft hat man die 100 Meilen dann geschafft.
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