Doch Angst hin oder her, ich musste dieses verdammte Rennen zu Ende bringen. In meinem Kopf wäre ich keine Ultraläuferin, bevor ich nicht einen 100-Meilen-Lauf beendet hatte. Endlich hatte ich etwas gefunden, was mir, in meinen Augen, dabei helfen konnte, zu einem neuen Menschen zu werden. Zum ersten Mal seit Jahren war da etwas, das diese Leere füllte. Der Rat des Sanitäters schreckte mich, doch wie schon zuvor bei Kevin war ich auch darüber verärgert.
Ich erwiderte seinen Blick.
„Willst du mich verarschen?“, antwortete ich. „Ich bin hier, um beschissene 100 Meilen zu laufen. Ich gebe doch jetzt nicht auf.“
Der Sanitäter seufzte verzweifelt auf und begann damit, meine Füße mit frischem Klebeband zu umwickeln. Noch einmal zwängte ich meine armseligen, geschwollenen Füße in meine Schuhe, die nun bereits einer Folterkammer gleichkamen. Als ich aufstand, zitterten meine Beine wie die eines neugeborenen Rehkitzes. Ich ging einige Schritte, und es waren die schlimmsten Schmerzen, die ich jemals verspürt hatte.
Nun fühlten sich meine Laufschuhe an, als wären sie mit heißer Kohle gefüllt. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich ging noch ein paar Schritte und begann dann leicht zu joggen. Die Schmerzen würden mich noch die nächsten acht Stunden begleiten. Sie sollten mein Pacer sein.
Es lagen noch 20 Meilen vor mir. Das waren mehr, als die meisten Läufer bei einem Trainingslauf absolvieren. 20 Meilen, das sind gut 32 Kilometer, und meine Füße waren so weich und empfindlich wie ein Babypopo, und das auf einem Weg, der mit Wurzeln übersät war und den ich nur im schwachen Schein meiner Taschenlampe sah. Dazu kamen natürlich noch die Alligatoren, vor denen ich mich in Acht nehmen musste.
Inzwischen war es stockfinster. Die Schmerzen in meinen Füßen hatten ihren Höhepunkt erreicht, doch als ich plötzlich gähnen musste, dämmerte mir, dass meine Füße vielleicht nicht mein größtes Problem waren.
Noch nie zuvor war ich die Nacht hindurch gelaufen, und nun musste ich in regelmäßigen Abständen gähnen. Mein plötzlicher Wunsch, mich im Laubwerk einzurollen und ein Nickerchen zu machen, drohte meinem Vorhaben, das Rennen zu beenden, ein jähes Ende zu bereiten.
Ich durfte jetzt aber keinen Zwischenstopp einlegen, egal, wie sehr ich mich nach einer Pause sehnte, denn ich machte mir Sorgen, die Cutoff-Zeit nicht zu schaffen, das Zeitlimit, bei dem die Teilnehmer aus dem Rennen genommen werden, ungeachtet dessen, wie weit sie bereits gekommen sind. Selbst die schnellsten Läufer konnten sich nicht mehr als einen kurzen Powernap leisten, ohne Gefahr zu laufen, die Cutoff-Zeit zu verpassen, und ich gehörte zu den langsamsten. Ich musste weiter.
Wie ein betrunkener Autofahrer torkelte ich in Schlangenlinien den breiten Weg entlang und gab mein Bestes, nicht mit anderen Teilnehmern zusammenzustoßen.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte mich ein älterer Mann, der anscheinend nicht zum ersten Mal die 100 Meilen lief. Dieser Typ von Mann erinnerte mich irgendwie an meinen Vater. Er war verstorben, als ich 17 war, und so viele Jahre, nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, dachte ich, dass mein Vater genau einer dieser Typen hätte sein können, wäre er nicht schon so früh von uns gegangen.
„Ich bin nur so furchtbar müde“, murmelte ich.
Er nickte mitfühlend. Ich war nicht die Einzige, die zu diesem Zeitpunkt wie ein Zombie dahinschlurfte.
„Du brauchst Kaffee“, sagte er.
Kaffee. Ja, natürlich , dachte ich halb benommen. Ja. Kaffee .
„Viel Glück!“, rief er mir über seine Schulter zu, als er in der Dunkelheit vor mir verschwand.
Bis zum nächsten Versorgungsposten waren es nur mehr ein paar Meilen. Ich wusste, wenn ich es bis dorthin schaffte, würde alles wieder gut sein.
Kaffee. Kaffee. Kaffee . Es war wie ein Mantra, das ich bei jedem schmerzenden Schritt vor mich hersagte. Alles, was ich wollte, war, mich niederzulegen. Ich konnte kaum noch meine Taschenlampe hochhalten, und ihr Lichtkegel schwankte langsam über den Weg und verwirrte mich. Meine Augenlider schlossen sich, während ich weiter nach vorne stapfte. Plötzlich riss ich sie wieder weit auf, als ich mit einem dumpfen Geräusch am Boden aufschlug. Ich rappelte mich hoch und streifte mir den Dreck von den Händen.
Es kann schon einmal passieren, dass Ultraläufer auf den Beinen einschlafen, weil sie so müde sind. Wir können sogar einnicken, während wir laufen. Ich hatte Glück, dass ich mich nicht verletzt hatte, doch ich war noch immer erschöpft, als ich weiterwankte. Ich war in ernsthaften Schwierigkeiten.
An diesem Punkt spürte ich auch dieses Gemeinschaftsgefühl, das mich im Endeffekt zum Ultralaufsport gebracht hatte.
Ultraläuferinnen und Ultraläufer sehen so wie alle Menschen aus, denen man auf der Straße begegnet, doch es gibt einen wichtigen Unterschied: Sie alle erbringen diese unglaublichen körperlichen Heldentaten. Während die anderen Läufer mich überholten und das Delirium sahen, in dem ich mich aufgrund der Schmerzen und Erschöpfung befand – etwas, das sie selbst bereits viele Male durchgemacht hatten oder sogar selbst gerade durchmachten –, lächelten sie mir zu und motivierten mich, oder sie fragten, ob dies mein erstes 100-Meilen-Rennen sei (ich hatte gehofft, dass es nicht gar so offensichtlich war, doch ich denke, das war es).
Das war die Art von Unterstützung, die mir bis dahin in meinem Leben immer gefehlt hatte, seit ich mich von meinen Freunden trennen musste. Damals war meine Mutter die Einzige, die auf meiner Seite zu stehen schien. Selbst Kevin zweifelte gelegentlich an mir, so wie in diesem Rennen.
Doch Ultraläufer sind füreinander da. Es schien fast so, als ob jeder auf diesem Trail wusste, was der andere durchmachte, und deswegen verstanden sie mich auch, ohne meine Lebensgeschichte zu kennen. Da hörte ich plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit.
„Möchtest du irgendwas?“
Der Versorgungsposten! Ich hatte es verdammt nochmal geschafft.
„Ich brauche Kaffee“, sagte ich.
„Ist leider aus“, sagte die freiwillige Helferin mit mitfühlendem Gesichtsausdruck.
Das waren schlechte Neuigkeiten. Ich war erledigt. Ich könnte zwar mit den Schmerzen weiterlaufen, aber ich konnte nicht länger wach bleiben.
„Wir könnten vielleicht noch welchen machen. Denke ich zumindest“, meinte sie.
„Wie lange würde das dauern?“, fragte ich.
„Hmm … so etwa 20 Minuten?“
Ich hatte keine 20 Minuten. In 20 Minuten wäre mein Körper ganz steif, und meine Füße würden sich wie Zementblöcke anfühlen, und ich würde wahrscheinlich einschlafen. Damit war das Rennen für mich zu Ende. Doch in diesem Moment hörte ich Kims Stimme hinter mir.
„Ist das dein erster Hunderter? Ich habe dich nämlich noch nie zuvor gesehen. Übrigens, ich bin Kim“, sagte eine Läuferin hinter mir in einem warmen texanischen Akzent und mit leuchtend rot geschminkten Lippen.
Sie hatte wohl schon öfters an diesem Rennen teilgenommen.
„Wie geht’s dir?“
„Ich brauche Kaffee“, antwortete ich.
Kim schüttelte den Kopf. Sie trug Make-up, und das bei einem solchen Wettbewerb. Das fand ich unheimlich lustig.
„Was du brauchst, ist NoDoz“, sagte sie. „Hier, meine Liebe. Ich hab welche.“
Dann kramte sie in dem kleinen Rucksack, den sie trug, und holte ein paar rote Pillen hervor.
Als sie mir die Tabletten hinhielt, durchzuckte es mich. Das Angebot war sehr verlockend, doch ich wusste, dass ich besser nicht zugreifen sollte. Schließlich brachte ich mich hier draußen gerade bei einem 100-Meilen-Rennen um, weil ich endgültig mit meiner Drogenabhängigkeit abschließen wollte.
XXX
Meine älteste Schwester Patty war immer gemein zu mir. Im Gegensatz dazu war Peggy immer nett zu mir, obwohl sie an einer bipolaren Störung litt und etwas reserviert wirkte. Ich bin das jüngste der drei Mädchen in unserer Familie. Patty ist neun Jahre älter als ich und Peggy sieben Jahre. Wir haben auch einen Bruder, Jay, der knapp zwei Jahre jünger ist als ich.
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