Für Neulinge im Ultrarunning ist diese Strecke besonders geeignet, denn sie geht nicht über Hügel oder Berge und nicht einmal über besonders felsiges Terrain, wie der Name vermuten lässt. Der Großteil der Strecke ist flach und breit und führt über weichen Boden. Ein holzig modriger Geruch hing in der feuchtschwangeren Luft, und es fühlte sich an, als wäre ich im Dampfbad. Die 20 Meilen lange Schleife schlängelte sich durch dichte, verwachsene Wälder, die die Sonne blockten, durch matschige Sümpfe und entlang von Seen voller Kreaturen, denen ich in Kalifornien nie zuvor begegnet war. Am Eingang zum Gelände wurde man von einem Schild begrüßt, auf dem stand: „In diesem Park gibt es Alligatoren.“ Großartig!
Ein weiterer Grund, warum diese Strecke bei Einsteigern so beliebt ist, ist das Rundenformat. Am Ende jeder Runde war da diese riesige Versorgungsstation in einem großen Zelt, so wie man es für spezielle Anlässe mieten kann. Dort konnten die Läufer essen und trinken, ihre Schuhe wechseln, sich umziehen, ihre wunden Stellen mit Vaseline behandeln und sich, natürlich, die kaputten und mit Blasen überzogenen Füße von einem Sanitäter mit Klebeband zusammenflicken lassen.
Wenn man das Zelt betrat, forderte ein Schild diejenigen, die sich übergeben mussten, auf, sich links zu halten. Ich gehörte nicht zu dieser Gruppe. Zumindest noch nicht.
Als ich aufstand und meine Füße wieder in die zu engen Schuhe zwängte, verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter den Hügeln. Im Dickicht der Bäume war es bereits dunkel. Den Rest des Rennens würde ich in der Nacht laufen. Ich schaltete meine schwache Taschenlampe ein und sah ihren blassen Lichtkegel um die Bäume tanzen. Das erinnerte mich auf sonderbare Weise an mein altes Leben. Das Einzige, was noch fehlte, war der tiefe Beat der Tanzmusik, der durch meine Brust vibriert.
„Viel Glück“, sagte der Sanitäter zu mir und versuchte dabei, seinen besorgten Blick zu verbergen. „Ich hoffe, das Klebeband hält.“
Warum sollte das Klebeband denn nicht halten? Verwendet man es nicht so gut wie für alle Reparaturen?
Nun, ich würde es sowieso bald herausfinden, und so machte ich mich auf meine nächste Runde.
Runden zu laufen ist eher ungewöhnlich für so ein Langstreckenrennen. Meist bist du ganz allein da draußen in der Wildnis, vor allem bei Ultramarathons. Du kannst dich verirrt haben, am Verdursten sein oder irgendwo verletzt herumliegen, und die nächste Person, die dir helfen könnte, ist vielleicht mehrere Kilometer weit entfernt. Deswegen passen die Organisatoren immer auf, wenn du an einer Versorgungsstelle vorbeikommst. Wenn sie deinen Namen nicht von der Liste gestrichen haben, wissen sie, dass sie vielleicht nach dir suchen lassen müssen. Gelegentlich – speziell, wenn man schon ziemlich kaputt aussieht – fragen sie dich auch nach deinem Namen oder wiegen dich, um sicherzugehen, dass du nicht zu viel Gewicht verloren hast.
Doch das hier waren 20-Meilen-Runden auf einem mit leuchtend orangen Schildern gut sichtbar markierten Kurs. Diese Schilder waren auch in der Dunkelheit gut zu erkennen und dienten als eine Art Sicherheitsnetz für Anfänger wie mich. Das bedeutete, dass Hilfe in der Nähe war oder dass es eine Raststelle gab, oder eine Wasserstation, bevor du dich wieder auf den Weg machst.
Trotzdem, ein 100-Meilen-Lauf ist nie einfach. Zwar war der Weg gut geräumt, doch überall ragten Baumwurzeln aus dem Boden, die nur darauf warteten, dich in einem unaufmerksamen Moment zu Fall zu bringen. Und es ist schwierig, sich Stunde um Stunde auf denselben verdammten Weg zu konzentrieren. Irgendwann beginnst du, dich in deinen Gedanken zu verlieren, eine Art Schutzmechanismus, der dich davon abhält, über die nächste Meile nachzudenken – oder die nächsten 40. Stürze und die blutigen Knie und Ellenbogen, die man sich dabei holte, waren unvermeidbar.
Das Klebeband wirkte als Dämpfung beim Auftreten für meine wunden Füße, und zum ersten Mal seit Stunden fühlte ich mich wieder besser. Ich konnte wieder laufen. Endlich fand ich Spaß daran. Ich hielt meine Taschenlampe vor mir, die ein fahles, gelbliches Licht abgab, doch es reichte gerade dazu aus, die Wurzeln und Steinbrocken zu erkennen, um nicht darüber zu stolpern.
Als die Nacht schließlich hereinbrach, wurden die üblichen Geräusche bei einem Rennen immer dumpfer. Ich konnte das sanfte Trommeln der Laufschuhe am Boden hören, begleitet von einer Sinfonie zirpender Grillen, quakender Ochsenfrösche und summender Insekten. Das schwere Atmen der anderen Läufer klang wie eine leichte Brise, die durch die Bäume wehte. Ihre Stimmen waren gedämpft, so, als ob sie die Stille der Nacht nicht stören wollten. „Gute Arbeit“, sagten sie immer wieder, wenn sie vorbeiliefen.
Zwei Läufer trabten an mir vorbei, die sich gegenseitig motivierten. Ich sah mich um und bemerkte überall kleine Gruppen von Läufern. Ich schien die Einzige hier zu sein, die niemanden hatte, der mit ihr lief.
„Das sind sogenannte Pacer“, lächelte ein Läufer mir zu, als er an mir vorbeikam.
Sein Pacer winkte mir zu.
Pacer? Man durfte Pacer verwenden? Ich hatte keine Ahnung, aber es stimmte, bei 100-Meilen-Rennen darf man andere Läufer mitbringen, die mit dir laufen und vorwiegend dazu da sind, auf dich aufzupassen und dich davon abzuhalten, komplett zu verzweifeln.
Ich bin ganz allein hier draußen , dachte ich mir.
Als die Nacht ihren Mantel über mich breitete und die dunkle Luft mir beinahe den Atem nahm, wurden auch die Geräusche unheimlicher. Ich dachte zurück an das Schild, das die Besucher des Parks vor Alligatoren warnt. In dieser rabenschwarzen, nächtlichen Finsternis musste ich unweigerlich bei jedem Geräusch aus dem Unterholz an ein mit spitzen Zähnen besetztes, schnappendes Maul denken – egal, ob es ein knackender Zweig oder ein Rascheln im Gebüsch war.
Diese Nervosität beschäftigte mich einige Zeit lang, während ich den dunklen Pfad entlanglief, und sie reichte aus, um mich von dem lose aus meinen Laufschuhen wehenden Klebeband abzulenken.
Aber leider nicht für den Rest des Rennens. Mist.
Ich war überzeugt davon gewesen, dass das Klebeband halten würde – wenn man Rohre damit reparieren konnte, dann musste es doch auch meine Füße zusammenhalten können –, doch nach 75 Meilen ertranken meine Füße dank der feuchten texanischen Luft wieder im Schweiß. Es fühlte sich an, als würde ich barfuß über Nadeln laufen, bei jedem Schritt spürte ich den Schmerz, den mir die Blasen verursachten. Es war einer der schrecklichsten Schmerzen, die ich je erlebt habe.
Und ich hatte noch immer einen ganzen Marathon vor mir.
Als ich nach 80 Meilen wieder an der Versorgungsstation war, brach ich vor dem gleichen Sanitäter wie zuvor nieder. Er sah nicht gerade erfreut aus, mich wiederzusehen.
„Sehen wir es uns einmal an“, sagte er und versuchte, meinem Blick auszuweichen, während ich meine Schuhe auszog. Es fühlte sich so unglaublich gut an, aus den Schuhen draußen zu sein.
Da ich mich nicht mit der Behandlung von Blasen auskannte, lehnte ich mich zurück und machte ein schmerzverzerrtes Gesicht, als er das restliche Klebeband von meinen Fersen entfernte. Dabei kam auch ein guter Teil Haut mit.
„FUUUUUUUUUUUUUCCKKKKKKKK“, schrie ich wie am Spieß.
Ich machte mich bereit, als er das Band auf der anderen Ferse ergriff. Dann zog er erneut daran, und die Haut kam genauso leicht mit, als würde er eine überreife Banane schälen. Diesmal schrie ich sogar noch lauter. Die wunden Flecken brannten höllisch, und die warme Mitternachtsluft war keine Erleichterung für meine aufgescheuerte Haut.
„Ich denke, du solltest aussteigen“, sagte der Sanitäter und sah mir dabei tief in die Augen.
Auch wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt nur ein paar Rennen beendet hatte, so wusste ich bereits, dass es bei Ultramarathons mindestens genauso viel ums Durchhalten geht wie ums Laufen. Um mich herum waren andere, die sich erbrachen, an Krämpfen litten und Schmerzen hatten oder sich in einem was weiß ich für erbärmlichen Zustand befanden. Mir also zu sagen, dass es besser wäre, aufzugeben, war deshalb nicht nur entmutigend, sondern machte mir Angst.
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