Die Antwort auf diese dritte und letzte Frage nehme ich in Form einer These vorweg: Für die Binnenintegration der nationalsozialistischen Bewegung war der Antisemitismus entscheidend; bei der Mobilisierung von Wählern stand er dagegen weniger im Vordergrund.
Hitler erkannte offenbar in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre richtig, dass er mit judenfeindlichen Parolen nicht jene Massen gewinnen konnte, die er brauchte, wenn er auf ›legalem‹ Weg die Macht erobern wollte. In Hitlers Wahlkundgebungen und in den großen Wahlmanifesten der NSDAP von 1930 bis 1932 wurden Versailles und die ›Novemberverbrecher‹, das internationale Bank- und Börsenkapital, der Marxismus und die bürgerlichen Parteien angeprangert – aber ausdrücklich war von den Juden nicht allzu oft die Rede. Anders bei Aufrufen an bestimmte soziale Gruppen, deren antisemitische Neigungen bekannt waren. In der Mittelstandswerbung etwa fehlte selten der Hinweis auf die jüdischen Warenhäuser, die der Nationalsozialismus liquidieren werde. Einen zentralen Platz nahm der Kampf gegen das Judentum aber immer dann ein, wenn die nationalsozialistische ›Bewegung‹ der Adressat war.
Tatsächlich ist es durchaus zweifelhaft, ob die Weltwirtschaftskrise bei der breiten Masse eine ›spontane‹ antisemitische Welle auslöste. Es gab zwischen 1930 und 1932 eine Reihe von antijüdischen Ausschreitungen, aber sie gingen alle auf das Konto von Nationalsozialisten. Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte wurden vor 1933 nicht befolgt. Da die Sozialdemokratie seit März 1930 an der Regierung im Reich nicht mehr beteiligt war, ließ sich gegen die staatliche Führung viel schwerer als in den ersten Jahren nach 1918 der Vorwurf erheben, sie sei ›verjudet‹. Nur bei Gruppen, die eine spezifische Konkurrenzfurcht vor den Juden hatten – dazu gehörten fertige und werdende Akademiker, aber auch Kleinhändler –, dürfte die Wendung zum Nationalsozialismus vielfach durch den Antisemitismus bewirkt worden sein. Für das Gros der Gesellschaft gilt, dass eher der Nationalsozialismus dem Antisemitismus Auftrieb gab als umgekehrt. Eva Reichmanns Urteil erscheint insofern prinzipiell zutreffend: »Wenn also der Erfolg der NSDAP ein so getreues Bild der wirtschaftlichen Lage, nicht aber der Judenfrage war, so beweist das, dass im Nationalsozialismus in erster Linie ein Ausweg aus der Krise gesucht wurde. Die antisemitische Propaganda wurde wohl hingenommen, aber der Antisemitismus bildete nicht den Ausgangspunkt für die politischen Entscheidungen der Wähler.« 18
Die Hinnahme der antisemitischen Propaganda zeigt freilich auch, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft an judenfeindliche Parolen gewöhnt hatte. Vorurteile gegen Juden waren zu jener Zeit in vielen Ländern, und zwar nicht nur in den traditionell antisemitischen Ländern Osteuropas, sondern auch in den westlichen Demokratien weit verbreitet. Aber dort, wo die Demokratie eine lange Tradition und ein breites soziales Fundament hatte, konnte ihre Abschaffung kein populäres Programm werden. Radikale Judengegner hatten in solchen Gesellschaften wenig Chancen, mit judenfeindlichen Forderungen Politik zu machen und eine antidemokratische Massenbewegung auf die Beine zu bringen. Zudem gab es auch in den Führungsschichten starke liberale Gegengewichte gegen totalitäre und rassistische Kräfte. Das war in Amerika nicht anders als in England und, mit Einschränkungen, in Frankreich. Im Deutschland der späten Weimarer Republik fehlte dieses liberale Korrektiv fast völlig. Das war eine Hypothek des deutschen Obrigkeitsstaates, und dieser Sachverhalt muss auf unser Urteil über das Kaiserreich zurückwirken. Ich stimme mit Hans-Günter Zmarzlik darin überein, dass man diese Epoche der deutschen Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel von 1933 und nicht losgelöst aus dem zeitgenössischen europäischen Zusammenhang betrachten darf. 19Aber die Position der feudal-militärischen Herrschaftsschicht Preußens war ein deutsches Spezifikum, zu dem es in den industriell fortgeschrittenen Staaten des Westens keine Parallele gab und das lange über 1918 hinaus fortwirkte. Das gilt nicht nur für den unmittelbaren Einfluss, den diese Gruppe auf die Staatsgewalt – vor 1918 und dann wieder seit Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten 1925 – ausübte, sondern auch für ihre Rolle als Verbündeter aller antidemokratischen Kräfte von rechts. Kein anderer Teil der deutschen Oberschicht hat so geschlossen und aktiv an der Zerstörung der Weimarer Republik und für die Machtübertragung an Hitler gearbeitet wie die ostelbischen Rittergutsbesitzer.
Aber selbst ein so fortschrittliches Element im politischen System des Kaiserreiches wie das allgemeine Wahlrecht hatte durchaus ambivalente Wirkungen. Es ermöglichte auf der einen Seite den Aufstieg der Sozialdemokratie, auf der anderen trug es erheblich dazu bei, dass es 1918/19 keinen radikalen Bruch mit der Welt des Obrigkeitsstaates gab. Die Erfahrung von einem halben Jahrhundert allgemeinem Wahlrecht ließ den meisten Deutschen, auch der großen Mehrheit der Arbeiter, jede Art von revolutionärer Diktatur als Rückschritt erscheinen. Die Tradition des allgemeinen gleichen Wahlrechts erklärt aber auch, weshalb in Kaiserreich und Republik diejenigen Gegner westlicher Demokratie den größten Erfolg hatten, die sich am besten auf die Mobilisierung der Massen verstanden – Kräfte also wie der Bund der Landwirte, die Deutsche Vaterlandspartei und schließlich, alle Vorbilder weit übertreffend, die Nationalsozialisten, die bewusst demokratische Techniken zur Verfolgung antidemokratischer Zwecke einsetzten. Von daher würde ich die Kontinuität der Zeit vor und nach 1918 stärker betonen als Zmarzlik.
Die konservativen ›Cliquen‹, die Hitler im Januar 1933 zur Kanzlerschaft verhalfen, vertrauten darauf, seine antisemitischen Parolen seien nicht so ernst gemeint, wie sie klangen. Aber für Hitler war, anders als für viele Agitatoren der konservativen Rechten, die Judenfeindschaft niemals Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck. Dass er aus seinem Feindbild die tödliche Konsequenz ziehen konnte, das ermöglichten ihm nicht die ›Radau-Antisemiten‹ aus NSDAP und SA, sondern der elitäre ›Orden‹ des Nationalsozialismus, die SS, in deren höheren Rängen es außerordentlich viele Akademiker gab. Das Bildungsbürgertum blieb über den 30. Januar 1933 hinaus die Schicht, aus der sich die Vorhut des deutschen Antisemitismus rekrutierte.
Gewiss, weder das Bildungsbürgertum noch irgendeine andere Schicht der deutschen Gesellschaft hat vor 1933 gewollt, was im Zweiten Weltkrieg mit den Juden geschah. Wer antisemitische Ressentiments hatte, dachte gemeinhin nicht an die umfassende bürgerliche Entrechtung, geschweige denn an die physische Vernichtung der Juden, sondern wäre wohl mit einer sichtbaren Zurückdrängung des jüdischen Einflusses zufrieden gewesen. Aber diese breite Strömung trug eben auch die Minderheit der rabiaten Judenfeinde, während die prinzipiellen Gegner rassischer Diskriminierung gegen den Strom schwammen. So gilt denn auch schon für die Zeit vor 1933, was Kurt Tucholsky im Dezember 1935 – wenige Monate nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze – an Arnold Zweig schrieb: »…ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet.« 20
1 Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung eines Beitrags mit dem gleichen Titel, der zuerst in dem folgenden Band erschienen ist: BERND MARTIN; ERNST SCHULIN: Die Juden als Minderheit in der Geschichte . München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1981, S. 271-289.
2 MICHAEL BRENNER: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik . München [Beck] 2000.
3 CORNELIA HECHT: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik . Bonn [Dietz] 2003.
4 DIRK WALTER: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik . Bonn [Dietz] 1999.
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