Sie erblickte einen kleinen runden Findling. ›Je…‹, stand darauf. Sie konnte den Namen nicht lesen. Nie konnte sie den Namen lesen, wenn sie diesen Traum hatte.
Mitten in dieser Nacht, als der rote Himmel nur noch ein schmaler verglimmender Streifen am Firmament war, wachte sie auf. Es war das erste Mal, dass sie aus diesem Traum aufwachte. Verschlafen sah sie an sich herunter, aber ihr Blick war nach den Bildern ihres Traums geschärft. Er hatte sie nicht beunruhigt, es war ihr vielmehr, als habe sie das fahle Licht schon oft gesehen, denn es war ihr Traum – oder die Reminiszenz ihrer Existenz.
Sie befühlte die pinkfarbene Jeans, die sie trug. Erinnerungsbruchstücke führten sie in die Umkleidekabine eines Kaufhauses zurück und sie sah sich die Jeans anprobieren; die Geburt ihrer Lieblingsjeans. Es war der weiche Denimstoff, der sich eng an ihre Oberschenkel schmiegte, so wie sie es liebte. Sie ließ ihre Beine fröhlich schwerelos in der Luft baumeln und sie spürte ihren regelmäßigen Puls, Blut, das verlässlich durch ihre Adern floss. Als ihre Augen über ihre Beine hinaus wanderten, fielen ihre langen braunen Haare vor ihre grünen Augen und sie konnte nichts mehr klar erkennen. Aber das, was sie noch gerade wahrgenommen hatte, bevor der löchrige Vorhang ihrer Haare eine ganz klare Sicht verhinderte, löste eine ungeheure Reaktion in ihr aus. Ihre Hände klammerten sich intuitiv an einem steinernen Pfeiler in ihrer nächsten Umgebung fest, suchten Halt, den der Pfeiler nicht gab, denn er war zu groß, ihn zu umgreifen. Ihre Augen sahen vor Panik starr nach unten, ihre Lippen bibberten, ihr Herz schlug, zu spüren bis in ihre Halsschlagader, und ihr Atem war ein Stakkato von Luftstößen. Sie traute sich nicht, die Haarsträhnen hinter die Ohren zu schieben, um besser sehen zu können. Wo war sie hier?
Unter ihr lag ein großer Vorplatz, das konnte sie erkennen, und etwas weiter entfernt verliefen die Straßen, wenige Lichtkegel, klein wie die von Taschenlampen mitten in der Nacht. Ruckartig zog sie ihre Beine an. Auf einmal war ihr kalt. Der verglimmende Streifen am Horizont war weiß, weit entfernt und nun kalt wie verlorenes Polarlicht.
Sie hatte ihre Umgebung erkannt. Oft genug hatte sie das Gebäude von unten gesehen. Und nun sah sie vom Dach dieses Gebäudes hinunter: Sie saß auf dem Reichstag.
Sie rutschte an die Sandsteinstele und umfasste sie zitternd, wandte ihren Kopf nach rechts, links und nach hinten, um sich zu orientieren. Sie fragte sich in diesem Augenblick nicht, wie sie dort oben auf das Dach gekommen war, sondern sie suchte nach einem sicheren Abstieg, um nach unten zu gelangen. Der Blick nach hinten eröffnete ihr einen gangbaren Weg, denn das Dach des Reichstages war flach. Sie musste nur aufstehen, ohne abzustürzen. Sie zog ihren Körper ein wenig zurück, bis ihre Beine nicht mehr in der Luft baumelten, sondern ihre Füße den festen Grund des Dachs spürten. ›Du musst deine Oberschenkel anspannen, Jenny!‹, dachte sie. Kraft würde sie brauchen, um sich nach oben zu stemmen. Mit einem Mal erschien ihr jede Bewegung nicht mehr wie selbstverständlich, sondern musste umständlich durchdacht, ihren Muskeln angewiesen und dann ausgeführt werden.
Jenny? Noch in ihrer Bewegung nach oben hielt sie inne: Sie hieß Jenny? Klar, sie hieß Jenny!
Und die Kraft, auf die Beine zu kommen, verpuffte völlig, als sie es tat; sie wog scheinbar nichts, ihre völlig falsche Einschätzung des Kraftaufwands brachte sie ins Taumeln. Sie neigte sich in Richtung des rettenden Dachs, als sie fiel.
Sie fiel mit der Schulter auf das flache Dach. Jenny erwartete einen beißenden Schmerz in ihrem Schienbein, das beim Fall gegen die Steinfigur geprallt war. Sie schüttelte ihren Kopf, sie betastete das Schienbein, denn sie spürte nur einen leichten Schmerz, ein Ziehen vielleicht. Irritiert richtete sie sich auf, krempelte die Jeans an der Wade nach oben in der Erwartung, einige Abschürfungen zu entdecken – nichts zu sehen. Und die Stele – sie stand immer noch steinern da wie zuvor.
Sie drückte sich mit ihren Armen nach oben, doch der Druck schien der einer anderen Welt zu sein, einer vergangenen. Fast wäre sie vornüber gekippt, so unfassbar leicht und mühelos war erneut die Bewegung.
Jenny lief über das Dach. Alle Teile dieser Bedachung führten zu den zwei Innenhöfen, die die große Kuppel in der Mitte flankierten. Der Himmel ließ sie wie von innen rot glühen. Auf dem Weg zum Hintereingang gab es Türen. Sie rannte zu einer hinüber. Die Tür schien ihre Rettung zu sein. Jenny wusste um ihre trügerische Hoffnung, denn die Tür würde verschlossen sein mitten in der Nacht. Doch verblendete Hoffnungen übten eine magische Anziehung auf sie aus, das war schon immer ihr Problem gewesen. Die Tür hatte einen runden, flachen Knauf, an dem sie zog und drückte. Verschlossen. Also warten bis zum nächsten Morgen, denn die anderen Türen würden wohl kaum offen sein. Sie wandte sich verdrießlich ab, streifte mit ihrer Schulter das Türblatt. ›So ungeschickt auch noch!‹, dachte sie über sich selbst, und wieder fehlte der Schmerz.
So ging Jenny zurück an die Dachkante und setzte sich in sicherem Abstand hinter die Balustrade. Sie saß schweigend da, das Kinn auf die Hand gestützt. Sie sehnte sich einfach danach, da unten zu sein bei den Menschen, die vereinzelt im Laternenlicht auf dem Vorplatz standen oder etwas weiter entfernt auf der Straße mit den Autos unterwegs waren. Und nicht so allein.
Während sie die Menschen da unten beobachtete, zogen sich ihre Lider zusammen wie ein Reflex, weil ihre Augen anfingen zu brennen und feucht zu werden. Tränen der Freude darüber, Menschen dort unten zu sehen, liefen über ihr Gesicht. Als ob sie eine Ewigkeit einsam und nur mit sich gewesen wäre. Sie freute sich einfach nur, wieder andere Leute zu sehen. Und ihre Tränen liefen über ein Gesicht, das zu einem Menschen gehörte, einer Person, deren Namen sie kannte. Sie war Jenny. Und ihr fiel es wie Schuppen von den Augen, denn ihr Name war es, der auf dem Findling stand.
Er lebte im ›Land der Schwarzen‹, das auf Arabisch Bil ād as-Sūdān hieß. Rocco war wie schon so oft auf dem Weg zu einer Massendemonstration gegen die Diktatur seines Präsidenten al-Baschir. Er ging mit großen Schritten energisch voran, es waren Schritte, die zu seiner Körpergröße passten. Seit 2013 war er dabei, wenn auch damals das Militär zweihundertzwanzig Zivilisten tötete und dadurch die Proteste zunächst erstickte. Das war das Jahr, in dem die Ärzte aus Protest gegen das Regime landesweit streikten und damit begannen, die Demonstrationen zu organisieren. Als Arzt hatte er von Anfang an mitgemacht. Seinen klaren Verstand machte er sich hierbei zunutze wie auch seine tiefe, sonore Stimme, die in Verbindung mit seinem logischen Denken die Fallstricke jeder komplizierten Diskussion binnen Sekunden entflocht und Überblick verschaffte. Er strahlte eine in sich ruhende Autorität aus, die ihren Ausgangspunkt in seiner Größe nahm; selbst für einen Mann war er überdurchschnittlich groß.
Diese Debatten über Anträge für Genehmigungen bei Behörden und die beste Vorgehensweise, die scheinbar kein Ende nehmen wollten, hatte es unter den Ärzten zuhauf gegeben, wenn es um die Vorbereitung weiterer Demonstrationen ging oder um die Frage, welchen Pressevertretern man wirklich trauen konnte. In einer Gruppe von Menschen meist etwas abseits stehend, verschaffte er sich stets einen Überblick, bevor er eingriff oder zu Hilfe gerufen wurde. Se, die Anführerin der Opposition, rief nach ihm: »Rocco, wir brauchen dich hier mal bitte! Die einen können mit den Vorgaben der Behörden für die nächste Demonstration leben und die anderen sehen darin eine inakzeptable Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit.« An der Wand lehnend und konzentriert zuhörend drängte er sich sanft in den streitenden Kreis. Menschen vor ihm drehten sich um, sahen zu ihm auf, wenn er mit ruhiger, tiefer Stimme die Kontroversen der Debatten befriedete. Er nahm den Argumenten die sie begleitende Emotion und zeigte, wie weit die Pro- und Contrapunkte wirklich auseinanderlagen. Dann machte er einen Vorschlag, oft ein Brückenschlag zwischen nur zentimeterweit auseinanderliegenden Positionen. Diese seine Besonnenheit brachten ihm nicht nur den Ruf des Streitschlichters ein, sondern auch Respekt und Ansehen, von denen er zwar Kenntnis hatte, jedoch ohne dass er sie ausnutzte. Ihm ging es um die Sache und die war verheerend.
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