In der Version einer summarischen Klage des Präsidiums der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger vom 17. Juli 1924, die alle vermeintlichen Sünden der Rotter-Brüder auflistet, habe Fritz und nicht Alfred jene Hauptprobe unterbrochen. Er soll erst „zum dritten Akt“ auf die Probe gekommen sein „und hörte, wie aus den Wolken gefallen, einen Satz ‚Das geht gegen meine Ehre als Schneider‘ oder so ähnlich. – Draufhin Fritz Rotter: ‚Wieso Schneider?‘ – Antwort: ‚Androklus ist Schneider.‘ – Rotter: ‚Ach, sagen Sie doch statt Schneider Christ, die Schneider könnten sich sonst beleidigt fühlen.‘“ Dieser Version widerspricht der Anwalt der Rotters, Wolfgang Heine, am 20. Juli 1924 aufs Entschiedenste:
„Die Behauptung […] ist von Anfang bis zu Ende unwahr und mit unerhörter Leichtfertigkeit aufgestellt. Zunächst ist es falsch, dass der Vorfall Herrn Fritz Rotter beträfe. Dieser war überhaupt nicht im Theater. Lächerlich wirkt die Unterstellung, dass einer der beiden Herren das Stück nicht gekannt hätte. Beide haben sich seit Jahr und Tag mit der Absicht der Aufführung des Stücks getragen, und Herr Alfred Rotter hat es mit größtem Ernste studiert und sich mit der Inszenierungsart beschäftigt. Selbstverständlich wusste er auch, dass Androklus als Schneider bezeichnet ist. Er lernte das Stück keineswegs erst auf der Hauptprobe kennen. Herr Direktor [Alfred] Rotter wurde durch leitende Persönlichkeiten darauf aufmerksam gemacht, dass die Art, wie Karl Ettlinger bei den letzten Proben seine Rolle auffasste, eine Gefahr für das Stück wäre. Darauf sah sich Alfred Rotter die Probe an und fand nun, dass Karl Ettlinger die Rolle in einer aufdringlichen, altmodischen Wiener Possenhaftigkeit spielte, den Androklus in der traditionellen Schneidermaske und Manier mit Hopserei usw. geben wollte und das Stück dadurch für das künstlerische Gefühl des Herrn Rotter herabzog. Gerade aus künstlerischer Gewissenhaftigkeit hatte Herr Direktor Rotter dagegen Einspruch erhoben. Als Karl Ettlinger nun darauf hinwies, dass Androklus im Buche als ‚Schneider‘ bezeichnet würde, hatte Herr Alfred Rotter die sehr zutreffende Bemerkung gemacht: ‚Ach was, Schneider, ein Schneider ist auch Mensch.‘ Darüber gab es einen Zusammenstoß mit Ettlinger. Der erklärte, in einer anderen Auffassung nicht spielen zu wollen.“
Der Anwalt fügt hinzu:
„Geradzu komisch muss auf jeden Kenner des Theaters die pathetische Entrüstung darüber wirken, dass sich Herr Direktor Rotter erlaubt habe, die Änderung eines Wortes in einem Stücke von Shaw vorzuschlagen. Wenn das ein Argument gegen die künstlerische Eignung zur Leitung eines Theaters sein soll, dann besaßen Goethe und Schiller sie nicht, die Shakespeares Macbeth bis zur Unkenntlichkeit klassifiziert haben, dann geht sie Herrn Prof. Max Reinhardt ab, der wie jemand witzig bemerkte, vom Don Carlos einen ‚interessanten Auszug‘ spielen ließ […].“
Fritz und Alfred sind so oft Gegenstand von Gerüchten, dass noch jede Geschichte den Anschein der Wahrheit bekommt. Umgekehrt machen die beiden die Leichtgläubigkeit zum Thema auf der Bühne. Als ihr ‚Revolutionsengel‘ Oskar Kanehl am 21. Januar 1921 im Trianon-Theater Ludwig Fuldas Das Wundermittel zur Aufführung bringt, ist das durchaus Gegenwartskritik. Die verwickelte Handlung resümiert eine Zeitung so:
„Ein Wundermittel, von einem stellungslosen Chemiker erfunden, eigentlich nur ein ganz harmloses Beruhigungsmittel, aber von einem gerissenen Unternehmer lanciert, erobert die Welt, sogar die Wissenschaft […]. Ein parodistisch gemeintes, aus Wut über die allerneuesten Richtungen von einem enttäuschten Maler geklecktes Bild wird ernst genommen, erobert Berlin, den Kunsthandel, sogar die Kenner. Zwei Parallelfälle. Zwei Freunde, die beiden unfreiwillig Bluffenden. Sie sind arme Teufel und erliegen der Versuchung, sich von gewissenlosen Kunst- und Wissenschaftshäuptern ausbeuten und managen zu lassen.“ 72
Das Mittel im Stück heißt „Mirakulin“, der neue Kunststil „Kompressionismus“. Die Zeitungskritik wendet Fuldas Spott über das „Unwesen der Reklame“ und die „Kritiklosigkeit, mit der das Publikum irgendeinem gut inszenierten Bluff erliegt“, aber sofort gegen die Rotters selbst: Der Autor Ludwig Fulda habe „vielleicht kaum bedacht“, dass „die Direktion den freundlichen Erfolg seines Lustspiels gewisslich mit ihrem bewährten System binnen kurzem zu einem sensationellen hinaufloben wird […], als er sein Stück schrieb und es einer von den Gebrüdern Rotter geleiteten Bühne überließ.“
Die Rotters halten Fulda die Treue. Emil Faktor vom Börsen-Courier meint hingegen nur herablassend: „Schade um Ludwig Fulda! Ich bin sein Feind nicht. […] Ich kenne außerdem ziemlich viele Stücke von ihm und begegne ihm nicht selten in der Untergrundbahn. Wenn ich dann sein stets verdrossenes Gesicht sehe, will mir bedünken, dass die Welt an ihm viel gesündigt hat, indem sie ihm eine Zeit lang Dichtertum einredete.“ 73Inspirierter über Das Wundermittel äußerte sich der Stilist der damaligen Kritiker-Zunft, Alfred Kerr: „Doch wenigstens die Luft ist reinlich – es riecht nicht schlecht. […] Das Stück ist harmlos; nicht ganz echt. Doch wie gesagt, es riecht nicht schlecht.“ 74
FRIVOLES BERLIN: DIE ROTTERS ALS „PUBLIKUMSBAROMETER“
Auch Eduard Stucken wird Hausautor der Rotters. Nach Myrrha inszeniert Fritz von ihm Die Gesellschaft des Abbé Chateauneuf . 75Uraufführung ist am 10. Februar 1921. Es ist die Geschichte einer Frau, die „auch noch nach ihrem Tode durch die Hand vieler Männer gegangen ist, die dann Romane, Dramen und sogar Opern mit ihr zeugten“: „Als sie lebte, hatte sie mit einem Marquis einen Sohn […]. Dieser junge Mann verliebte sich, wie man weiß, in die unbekannte Mutter. Er kam nicht, wie Ödipus, dazu, sie zu heiraten. Als er erfuhr, dass es das Fräulein Mama war, das er anbetete, erschoss er sich. […] Ihr verliebtes Söhnchen war Hans Brockmann. Es ist eine zuckerige Rolle; der Schauspieler ließ sich tenorsäuselnd nicht entgehen, sie noch in Schmalz zu backen und Saccharin darüberzustreuen. Festessen für kleine Mädchen“, so das Berliner Tageblatt . 76„Welch wunderlicher Mensch und Poet, dieser junge Eduard Stucken!“, ruft Franz Servaes im Lokal-Anzeiger nicht ohne Bewunderung. „Mit jedem Stoffe, den er aufgreift, scheint er selbst sich zu verwandeln.“ Andere Zeitungen spotten: „Rotters sind zum Kostüm übergegangen“ – „Barock. Ringellocken. Spitzenkragen; galante Abbés, frivole Chevaliers, geistvolle Marquisen; roter Samt, matte Seide, und immerzu Esprit“. 77Auch Herbert Jhering ist unerbittlich: „In der Tat reichen die ungeprägten Weisheiten, die hier […] ausgetauscht werden, für zehn Rotter-Inszenierungen. In der Tat reichen die unformulierten Witze, die sich hier als Esprit ausgeben, für das Residenz-, das Trianon- und das Kleine Theater zusammen. In der Tat genügt die süßliche Tragik für das Sentimentalitätsbedürfnis einer ganzen Saison.“ 78
Danach arbeitet Fritz Rotter nie wieder als Regisseur.
Doch anders, als die Theaterkritik es wahrnimmt, sind diese frivolen Salonstücke um Frauen, die den gesellschaftlichen Konventionen den Rücken kehren, nicht lediglich ein Merkmal für das starke Zerstreuungsbedürfnis der unruhigen, schwierigen Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges und während der Inflation, sondern spiegeln die Suche nach einem neuen Selbstbild von Frau und Mann.
Die neuen Komödien der Inflationszeit sind gesellschaftliches Traummaterial und offenbaren – so wie später das Operettenfieber in den Jahren der Weltwirtschaftskrise – tiefere Sehnsüchte. In beiden tragischen Phasen der Weimarer Republik geben die Rotterbühnen kulturell mit den Ton an. Die Rotters enthüllen ein Stück Berliner Befindlichkeit. In ihrem Leben und in ihren Aufführungen verkörpert sich ein besonderes Zeitbild der deutschen Hauptstadt zwischen den beiden Weltkriegen.
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