In zeitlicher Nachbarschaft tritt dem Kaiser Constantin der Mönch ANTONIUS gegenüber: dem mächtigen Herrscher des weltlichen Reiches der asketische Heilige in der fernen Wüste. Sein Leben, sowie dessen verkündigende Vergegenwärtigung in der Vita Antonii des Patriarchen Athanasius, hat dem spätantiken Mönchtum das erste, maßstabsetzende Modell gegeben. Mit welcher Macht dieses Modell viele Menschen zur Nachfolge reizte, davon zeugen zeitgenössische Anekdoten ebenso wie eine gewaltige literarische Wirkungsgeschichte. Vielfältig sind die Gründe für jenen Aufschwung des Mönchtums, der Andreas Merkt von einer „Kulturrevolution“ und der „größten Jugendbewegung der Antike“ sprechen lässt. Das Leben des Antonius bot all jenen Mönchen und Nonnen die Schlüsselfigur, der sie bei ihrem Auszug aus der weltlichen Gesellschaft ihrer Gegenwart nachfolgen konnten. In seiner Besitzlosigkeit suchten sie die Freiheit des Christenmenschen, in seiner Askese die irdische Vorwegnahme der himmlischen Harmonie von Körper und Geist, in seiner Heiligkeit ein neues, unblutiges Martyrium. Was immer vom 5. bis zum 7. Jahrhundert an Mönchsviten und Heiligenlegenden geschrieben wurde, folgte dem mythischen Muster des heiligen Antonius. In einer Kirche, welcher der Bund mit dem Kaiser Macht und Reichtum bescherte, hielt das Mönchtum die Erinnerung daran wach, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist.
Wohl keine Gestalt der Antike hat die Imagination der folgenden Generationen wie der folgenden Jahrhunderte derart aufgestört wie JESUS CHRISTUS. Allerdings riskiert Missverständnisse, wer Christus unter dem Titel ‚Mythen Europas‘ heranzieht. Nun verwendet die Vortragsreihe „Mythos“ strikt als einen Rezeptionsbegriff. Zur Schlüsselfigur in diesem Sinne wird eine Figur, wie ausgeführt, ausschließlich durch ihre Wirkungskraft auf die kollektive Imagination; ihre historische Faktizität oder Fiktionalität bleibt dabei ganz außer Betracht. Gleichwohl ist von Interesse, dass schon die antike Christenheit große Mühe darauf gewendet hat, die Gestalt Christi kritisch abzusetzen von den Göttern und Heroen jener Religionen, in deren Umfeld und gegen deren Sog Kraft sie sich zu behaupten hatte. Eine führende Rolle wuchs dabei Augustinus zu, dem wohl wirkungsmächtigsten aller Kirchenväter. Er setzte Christus von den mythologischen Gestalten ab durch die Historizität seines menschlichen Erdenlebens und durch seine zwiefache Natur als „ganz Gott“ und „ganz Mensch“. Und er vollzog diese Abgrenzung, indem er – am Leitfaden seiner eigenen, in den Confessiones niedergelegten Erfahrung – die Wirkung Christi auf das Leben des gottsuchenden Menschen herausarbeitete. Unter dem Titel ‚Der Rationalitätsanspruch der Augustinischen Christologie‘ zeichnet Norbert Fischer diese Argumentation nach.
Die meisten der hier versammelten Beiträge wurden im Wintersemester 2002/03 an der Katholischen Universität Eichstätt als Vorträge gehalten. Ein besonderer Dank gilt Frau Barbara Graziosi und Herrn Andreas Merkt, die mit Aufsätzen einsprangen, als Vorträge anderer Referenten nicht publiziert werden konnten. Die Konzeption wie die organisatorische Durchführung des Programms lag in den Händen von Karl Graf Ballestrem, Verena Dolle, Andreas Hartmann, Inge Milfull, Michael Neumann und Christine Strobl. Jürgen Malitz hat uns für den Druck freundlicherweise zahlreiche Bildvorlagen aus der Numismatischen Bilddatenbank Eichstätt überlassen. Für die Finanzierung der Vortragsreihe danken wir vor allem der Sparkasse Eichstätt und dem Katholischen Bildungswerk Eichstätt. Frau Elisabeth Pustet hat sich schon früh für die Drucklegung interessiert und den Weg von den Vorträgen zum Buch so unermüdlich wie einfallsreich begleitet.
Michael Neumann
1Vgl. Meier 1988.
2Schneider 1936, S. 6.
3Vgl. Neumann 1997, bes. S. 177-181.
4Nietzsche 1980: III 404.
5Einstein 1980, S. 37.
6Warburg 1992, S. 232.
7Gombrich 1994, S. 43.
8S. z.B. Herding & Reichardt 1989, Danelzik-Brüggemann 1996 und Flacke 1998.
9Ricoeur 1965, S. 47.
10Z.B. Duby 1966/67:1 11-17, und Borst 1973, S. 675f.
11Clark zitiert hier den Titel eines Dramas von Thornton Wilder aus dem Jahre 1942. Duby 1995, S. 7.
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