Vor dem Krieg war Vati allerdings stolzer Besitzer eines eigenen Autos einschließlich eines auch damals schon notwendigen Führerscheins. Am Ende des Krieges beschlagnahmten die Russen den Wagen und haben das Auto während der Zeit, als Vati in Gefangenschaft war, einfach verkauft. Bei einem Besuch in Riesa sah Vati sein Auto am Straßenrand und machte den Fahrer ausfindig. Es war der neue Besitzer, der den Wagen von den Russen gekauft hatte. Somit hatte Vati keinen Anspruch mehr!!!
Zurück zur Wohnungssuche:
Er hatte Glück und ergatterte eine schöne Zweieinhalbzimmerwohnung in einem Zweifamilienhaus – allerdings für damalige Verhältnisse jwd. Der unmittelbare Zugang zu Wald und Wasser (Müggel- und Dämeritzsee) war für uns Kinder einfach paradiesisch und ließ uns in nahezu unberührter Natur aufwachsen. Im Sommer ging es mit den Eltern und Großeltern in die Beeren und Pilze, die damals noch reichlich vorhanden waren. Oma und Opa Marx verbrachten regelmäßig ihren dreiwöchigen Urlaub bei uns, und wir Kinder freuten uns immer riesig auf ihren Besuch. Wie das Schlafproblem mit sechs Personen in unserer Wohnung gestaltet wurde, ist mir heute nicht mehr in Erinnerung, es wurde aber wohl gelöst und wir hatten immer eine wunderbare Sommerzeit.
Bei bedecktem Himmel ging es also in die Pilze und die Ausbeute war immer reichlich, sodass auch für den Winter eingeweckt werden konnte. Manchmal besuchte uns auch eine entfernte Cousine aus Niesky und zeigte uns als offizielle Pilzberaterin viele uns unbekannte Pilze. Dazu gehörten auch die giftigen, damit wir vor Verwechslungen sicher waren. Dieses Wissen war uns noch viele Jahre später sehr hilfreich, als wir die schwedischen Wälder erkundeten.
Bevor wir nun diese wunderbare Umgebung in Rahnsdorf erleben konnten, stand erst einmal der Umzug von Leipzig nach Berlin an. Vati war schon ein Jahr vor der Familie in seiner neuen Arbeitsstelle tätig und wohnte die Woche über bei einem Arbeitskollegen und seiner Frau. Am Wochenende fuhr er zu uns nach Leipzig. Mit der Übersiedlung nach Berlin im Februar 1953 begann nun auch ein wirkliches Familienleben für uns, die Wochenenden konnten genossen werden, wobei samstags noch bis mittags gearbeitet werden musste. Auch wir Schüler drückten bis zum Schulabschluss jeden Samstag die Schulbank.
Meine Umschulung nach Berlin bereitete mir keine Schwierigkeiten, zumindest was den Lernstoff betraf. Allerdings war ich mit meinem wohl breiten Sächsisch ein Exot. Die „herzliche“ Art der Berliner Gören machte es mir aber leicht, mich innerhalb kurzer Zeit auf „icke, icke“ umzustellen. Eigentlich ist Sächsisch ja ein liebenswerter Dialekt (was nicht viele so sehen), und bei Bedarf kann ich es heute noch sprechen und viele Begriffe auch verstehen.
Mein Bruder Matthias war beim Umzug erst drei Monate alt und hatte noch keine Sprachprobleme. Allerdings weigerte er sich lange, überhaupt zu sprechen, er wurde sogar mal beim Arzt vorgestellt, weil meine Eltern sich Sorgen machten. Mit gut zweieinhalb Jahren kam dann die Erlösung und er sprach sofort ganze Sätze!
Mein Einleben in die neue Schule gelang also ohne Probleme, und die ersten Sommerferien wurden intensiv am Müggelsee verbracht. Da ich als Leipziger Stadtkind bis zu unserem Umzug keine Möglichkeit hatte, schwimmen zu lernen, bot sich nun dazu die erste Möglichkeit, zumal ich mit meinen Schulkameraden auch allein ohne meine Eltern zum See fahren wollte. Also wurde ich zum Schwimmunterricht angemeldet und kam „an die Angel“. Auf einer schwimmenden Insel (unter dem Begriff Prahm im Strandbad bekannt) war ein Ausleger wie eine steife Angelrute befestigt. Statt Angelschnur hing am vorderen Ende eine Schlinge an der langen Leine, die um die Brust gelegt wurde. So wurden nach den ersten Trockenübungen die ersten Schwimmversuche im tiefen(!) Wasser gemacht. Beim drohenden Abgluckern wurde man sofort nach oben gezogen. Ich fand es eine tolle Erfindung, sie wurde aber schon nach einiger Zeit aus mir unbekannten Gründen nicht mehr praktiziert. Jedenfalls präsentierte ich bereits nach zwei Wochen stolz meinen Fahrtenschwimmer. So ausgestattet konnten wir Kinder jeden Sommer im und am Wasser ausgiebig genießen. Ich entwickelte mich zu einer ausgesprochenen Wasserratte! Nach Schulschluss, wenn die Hausaufgaben erledigt waren, fand sich immer eine Clique fürs Strandbad. Damals war das Wasser auch noch glasklar und sauber. Waren wir in den Ferien den ganzen Tag im Bad, so packte mir Mutti immer acht bis zehn Schrippen ein. Abends war ich dann so kaputt, dass ich die zwei Kilometer kleine Steigung nach Hause mit dem Rad zu unserer Wohnung am Püttbergeweg kaum geschafft habe. Das Fahrrad war ein alter „Brennabor“ aus Vorkriegszeiten, natürlich ohne Gangschaltung. Diese gabs damals noch nicht. Das Rad bestand aus Rahmen, bereiften Rädern, Lenkstange, hartem Sattel, Lampe mit Dynamo und Klingel! Aber toll war es dennoch, denn die Alternative war Laufen. Busfahren war zwar billig, aber es fuhr kaum einer und wenn, dann war er überfüllt und oft wurde man dann gar nicht mehr mitgenommen.
Da dieses von einem Freund meines Vaters geschenkte Fahrrad (wie schon erwähnt ein Vorkriegsmodell) schon deutliche Rostspuren aufwies, musste langsam an eine Neuerwerbung gedacht werden. In Osten gab es zwei Fabrikate von Fahrrädern. Ein „Diamant“ für 450 Ostmark oder ein „MIFA“ für 250 Ostmark. Beides waren Festpreise, genannt EVP (Endverbraucherpreis). Mit zwölf Jahren fing ich an zu sparen, meine Eltern konnten es mir nicht finanzieren. Meine Großeltern sponserten mich für gute Zeugnisnoten, und für jeden Brief, den ich ihnen schrieb, gab es drei Mark. Da ein Telefon zu bekommen die absolute Ausnahme war, wurden Oma und Opa auf diese Weise recht ausführlich unterrichtet. Ja, damals schrieb man noch lange Briefe.
Da Vati schon gleich mit unserem Umzug nach Berlin geschäftlich ein Telefon bekam, waren wir natürlich sehr glücklich. Von meinen Klassenkameraden hatte meines Wissens nur noch Christine ein Telefon, ihre Eltern hatten einen Kohlenhandel. Um am Nachmittag mit meinen anderen Freundinnen zu kommunizieren, waren wir also gezwungen, uns zu verabreden und zu treffen. Gespielt haben wir draußen, bis es dunkel wurde und der Hunger uns nach Hause trieb.
Nun zurück zum Fahrrad. Eine weitere Möglichkeit der Finanzierung war das Stopfen von Socken. Herren- und Kindersocken hatten damals viele Löcher und stets neue Socken zu kaufen war einfach nicht drin. Da Mutti viele andere Sachen zu flicken hatte (mein Bruder Matthias war inzwischen im Hosenverschleißalter), bot ich meine Unterstützung an. Natürlich nicht kostenlos! Kleine Löcher wurden mit 1 (einem) und große Löcher mit 2 (zwei) Pfennig vergütet. So kam ein Groschen zum anderen und eine Mark zur anderen. Am Ende konnte ich so gut stopfen, dass ich mich sogar zur gewerblichen Kunststopferin hätte melden können.
Zu meinem 15. Geburtstag stand dann das neue „MIFA“-Fahrrad vor der Tür. Eltern und Großeltern hatten den noch relativ kleinen Fehlbetrag ergänzt. Diesmal war das Rad nun auch mit einer Drei-Gang-Schaltung ausgestattet! Bei so langer Ansparzeit und so viel Eigenanteil habe ich es gehegt und gepflegt und bis zu meinem Auszug wie meinen Augapfel gehütet. Ein Fahrrad zu besitzen war schon ein kleiner Schatz, Fahrraddiebstähle waren zwar recht selten, kamen aber doch vor.
Das Schulsystem in der DDR bestand aus einer achtklassigen Grundschule. Mit überdurchschnittlich guten Noten gab es nach erfolgreichem Abschluss die Möglichkeit zum Besuch der vierjährigen Oberschule. Noten allein genügten jedoch nicht, sowohl die Schüler als auch die Eltern mussten sich schon als linientreue Staatsbürger zu erkennen geben.
Die Regel war, mit 14 Jahren nach Abschluss der Schule einen Beruf zu erlernen. Die Plätze auf der weiterführenden Oberschule bis zum Abitur waren sehr beschränkt und in einem Arbeiter- und Bauernstaat vorzugsweise für Kinder dieser Klasse vorgesehen. Vati war als kaufmännischer Angestellter, wenn auch in einem volkseigenen Betrieb, weder das eine noch das andere. So fiel ich nicht in diese Kategorie, obwohl ich Zweitbeste der Klasse war.
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