Die ersten Ratgeber schlugen Gegenmaßnahmen vor wie: Meditation über traurige Dinge, flüssigkeitsarmes Abendessen oder nicht mehr dran denken. Aber solche Halbherzigkeiten waren viel zu schwach für eine solch ungeheure Bedrohung, wie man sie von der Selbstbefriedigung inzwischen auszugehen glaubte. Verängstigte Eltern im neunzehnten Jahrhundert taten ihr Möglichstes, um insbesondere ihre Söhne vor diesem Übel zu bewahren. Dabei legten sie den Jungen Keuschheitsgürtel mit Innendornen an, so dass jede Gliedversteifung sehr schmerzhaft werden würde, sie banden ihnen nachts die Hände in Säcke, befestigten Kieselsäckchen auf ihrem Rücken, damit sie sich im Bett nicht gerade ausstrecken konnten, oder installierten Apparaturen, die im elterlichen Schlafzimmer eine Glocke klingeln ließen, wenn der Junge eine Erektion hatte. Der nächste Schritt waren chirurgische Operationen wie das Aufschlitzen der Vorhaut, das Durchtrennen von Nervensträngen, das Einspritzen von Silbernitratlösungen (es sei erstaunlich, was eine Harnröhre so alles aushalte, befand der Erfinder dieser sogenannten Lallemand-Methode), das Einführen von Stahlsonden in den Penis und vielerlei Einfälle mehr. Manche Sittenwächter bekämpften sogar die von der Öffentlichkeit ansonsten begeistert aufgenommene Erfindung des Fahrrades damit, dass es ein nur allzu dürftig verkleidetes Vehikel für das Vergnügen an der Masturbation darstelle – so die Experten.
Etwas ziviler war da zu Beginn des 20. Jahrhunderts John Harvey Kellogg, der auch von dem Gedanken besessen war, dass Selbstbefriedigung bis zu Tuberkulose, Wahnsinn und Tod führen konnte. Als »Gegenmittel« erfand er 1906 verschiedene Nahrungsprodukte, welche die Gedanken der Jugend weg von der Sexualität und hin zur Gesundheit lenken sollten – eines davon waren die Cornflakes.
Die entstandenen Ängste warfen lange Schatten. Noch 1930 beschrieb kein anderer als D. H. Lawrence, der Verfasser von »Lady Chatterley’s Lover«, Masturbation als »gewiss das gefährlichste Laster, von dem eine Gesellschaft langfristig befallen sein kann«. Und für die US-amerikanische Marine-Akadamie Annapolis waren im Jahre 1940 Hinweise auf Selbstbefriedigung ein ausreichender Grund, um Bewerber nicht in ihre Reihen aufzunehmen. Noch in offiziellen Lehrbüchern der fünfziger Jahre wurden Prügel, Zwangsmaßnahmen und Operationen als Lösung des »Problems Selbstbefriedigung« aufgeführt.
Wie Volker Elis Pilgrim in seinem Buch »Der selbstbefriedigte Mensch« (aus dem auch einige der oben genannten Beispiele stammen) ausführt, hielt sich auch zum Zeitalter der sexuellen Revolution in den sechziger und siebziger Jahren der schlechte Ruf der Onanie recht hartnäckig. Der Duden stufte sie zur »Ersatzbefriedigung« herab, für den Brockhaus war sie ein »normales Durchgangsstadium« in der Pubertät – den Jugendlichen sollte beigebracht werden, ihren »Geschlechtstrieb allmählich zu beherrschen«. Noch abfälliger äußerten sich evangelische und katholische Wörterbücher zur Sexualpädagogik. Den Protestanten galt Masturbation als »primitivste Form sexueller Befriedigung«, die »ethisch zu verurteilen« sei, da »Ziel des Geschlechtsverlangens die intime Vereinigung der Ehegatten« sei. Die Katholen drückten sich verquaster und zugleich verdammender aus: Da die »geschlechtliche Befähigung des Menschen (…) wesentlich auf die personale und liebende Begegnung im Fleische und auf den Dienst an der Fruchtbarkeit ausgerichtet« sei, die Selbstbefriedigung jedoch »die Ausrichtung auf das Du umbiegt auf das Ich und bloße Triebbefriedigung« suche, sei diese Handlung »schuldhaft in dem Maße, als sie bewusst und frei gewollt geübt« werde. Folglich gibt es auch im Jahr 1970 noch putzige Ratgeber, wie man Heranwachsenden diese Sünde austreiben könne: So wußte Thomas Klaus in seinem Buch »Sexualerziehung« (Stuttgart 1970) zu berichten: »Alle Formen der Onanie in der Ehe sind Zeichen oder Beginn einer ernsten Störung, die psychotherapeutische Eheberatung oder Behandlung erfordert.« Damit es gar nicht erst dazu kommt, könne der »Charakter des Heranwachsenden« dadurch gebildet werden, dass man Selbstbefriedigung bewusst bagatellisiere: »Seit zwei Jahrzehnten erleben wir außerordentlich günstige Ergebnisse, wenn in persönlichen Gesprächen, wie vor allem in der Selbsthypnose des Autogenen Trainings und notfalls in ärztlich-hypnotischer Behandlung die Worte wiederholt werden: ›Onanie ist ganz gleichgültig‹.«
Mit anderen Worten: Selbstbefriedigung wurde noch vor wenigen Jahrzehnten noch immer als so krankhaft und behandlungsbedürftig bewertet wie beispielsweise Homosexualität oder Sadomasochismus, und die Freiheit zur sexuellen Selbstbestimmung musste von der Mehrheit ebenso mühsam gegen (oft selbsternannte) Autoritäten erkämpft werden, wie es Minderheiten in der sexuellen Ausrichtung nicht erspart blieb. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften rügte die Zeitschrift »Bravo« wegen Verleitung zur Masturbation, Günter Amendts Fernsehsendung zu seinem Buch »Sexfront« wurde 1969 wegen »Aufrufs zur Onanie« verboten, und als der Showmaster Dietmar Schönherr (»Wünsch dir was«) 1975 in einer Umfrage des »Münchener Merkur« befand, dass über Selbstbefriedigung zu wenig gesprochen werde, entschied der verantwortliche Redakteur, dies nicht drucken zu können. Und als sich die Sängerin Nina Hagen 1979 in der ORF-Talkshow »Club 2« überraschend daran machte, Techniken weiblicher Onanie vorzuführen, sorgte das für einen größeren Skandal.
Von der erblühenden Frauenbewegung dieser Zeit wurde mit diesem Thema sehr unterschiedlich umgegangen. Die Feministin Betty Dodson etwa entwarf 1972 ein Manifest pro weibliche Selbstbefriedigung, das ein Jahr später zu einem Artikel in der Zeitschrift »Ms.«, noch später zu einem kompletten Buch avancierte (ursprünglicher Titel »Liberating Masturbation«, neuveröffentlicht 1986 als »Sex for One«; unter diesem Titel ist es auch in Deutschland erschienen). Dodsons Buch wurde zum Bestseller. Weitere Ratgeber dieser Art folgten. Sexfreundliche Frauenrechtlerinnen wie Annie Sprinkle, Carol Queen oder auch Madonna taten einiges, um Selbstbefriedigung als Teil ihrer Bühnenperformance der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Radikalfeministinnen wie Alice Schwarzer hingegen zogen derweil noch immer mit Parolen wie »Gegen Pornos und Wichser!« durch die Lande. Tatsächlich war die Porno-Industrie ein entscheidender Einflussfaktor darauf, dass die verschiedenen Varianten der menschlichen Lustbefriedigung auch einem breiteren Mainstream offen zugänglich gemacht wurden.
Allmählich besannen sich die Sexualexperten eines anderen. In einem ersten Schritt wurde für Mediziner, Pädagogen und Psychologen Selbstbefriedigung zunächst ein ganz natürlicher Teil des jugendlichen Entwicklungsprozesses. Noch weiter aufgeweicht wurde das Tabu durch den sich neu herausbildenden Markt der Ratgeberliteratur: Die international bekannteste Koryphäe auf diesem Gebiet, Dr. Ruth Westheimer, empfahl Masturbation ebenso ausdrücklich auch für Erwachsene wie beispielsweise Alex Comfort (»Joy of Sex«). Selbst das alte Märchen, dass Selbstbefriedigung ein Notbehelf für Einsame war, letztlich also doch auf eine Charakterschwäche hinwies, verschwand. Neuere Untersuchungen ergaben, dass Menschen um so öfter onanieren, je aktiver sie auch sonst im Sexualleben sind. Jemand, der schon früh im Leben mit solchen Entspannungsübungen beginnt, ist auch mit einem Partner um so intensiver zugange – vielleicht wegen einer offeneren Einstellung gegenüber Sex, vielleicht wegen einer größeren Vertrautheit mit dem eigenen Körper und seinen Reaktionen. Bekanntes Beispiel ist der Schriftsteller David Guy, der in seinem Buch »The Autobiography of my Body« (»Die Autobiographie meines Körpers«) seinen Lebenslauf der Selbstbefriedigung darlegt und zu dem Schluss kommt, die glücklichsten Erfahrungen damit in den Phasen gehabt zu haben, in denen er verheiratet war.
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