Auch wenn Gäste ins Haus kamen, litten sie unter Tonis Exzessen, die von seinen Eltern mit wohlwollendem Schmunzeln verfolgt und als Ausdruck seiner frühzeitig entwickelten Persönlichkeit interpretiert wurden. Nicht einmal vor der an jedem Donnerstag stattfindenden Tarockpartie machte er halt, und der Papa mochte sich auch dann nicht zum Eingreifen entschließen, wenn das geniale Kind unter den Tisch kroch, die Hosenaufschläge der Spieler mit Asche und Zigarettenresten füllte, ihre Schuhbänder durchschnitt oder ähnlich erfindungsreichen Unfug trieb.
Eines Nachmittags aber trieb er's zu bunt. Sei es, daß Papa Feldmann im Verlust und folglich mißgelaunt war, sei es, daß er (in Abwesenheit von Frau Feldmann) den Augenblick gekommen sah, endlich einmal den Herrn hervorzukehren - jedenfalls erhob er sich plötzlich mit energischem Ruck, packte seinen Sohn an der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Nach einigen Minuten kam er allein zurück, nahm seinen Platz wieder ein, (…) und die Partie nahm ihren erstmals ungestörten Fortgang (…).
Erst als die Partie beendet (…) war, erkundigte sich einer der Teilnehmer: ›Sagen Sie, Feldmann - was haben Sie eigentlich mit Ihrem Buben gemacht, daß er uns nicht mehr gestört hat?‹
Herrn Feldmanns Antwort erfolgte (…) mit einwandfreier Klarheit (und offenbarte ein Maß an väterlicher Selbstüberwindung, wie es eben nur ein Kartenspieler aufbringen kann):
›Ich hab ihm onanieren gelernt.‹" (Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlands in Anekdoten, 1975, dtv 1266, S. 67 f. - Anmerkung des Verlegers).
Selbstbefriedigung – zwischen Terror und Tabu
BEVOR WIR UNS MITTEN INS THEMA STÜRZEN, wäre es doch einmal interessant, eine Antwort auf die Frage zu finden: Warum eigentlich gibt es auf dem riesigen Markt der Selbsthilfeliteratur und Sexratgeber nicht auch eine kleine Palette an Ratgebern für die bessere Masturbation? Wie kommt’s, dass Onanieren hier immer noch mit einem Tabu behaftet ist?
Die schlechte Propaganda, die die Selbstbefriedigung genießt, hat zunächst einmal zu einem guten Teil mit der christlichen Religion zu tun. Diese sorgte mit einigem Nachdruck dafür, dass der eigenhändige Lustgewinn als etwas Verwerfliches galt. So sah Kirchenvater Thomas von Aquin in ihr eine größere Sünde als in der Unzucht. Als grundlegend dafür gilt die alttestamentarische Geschichte Onans, der dieser Freizeitbeschäftigung ihren Namen gab. Dabei ist dies ein wenig kurios, denn die Geschichte spielte sich folgendermaßen ab: Onans Bruder ließ nach seinem Tod eine Witwe zurück. Gottes Wille nahm Onan in die Pflicht, mit dieser Frau an Stelle seines verstorbenen Bruders ein Kind zu zeugen. Onan wohnte seiner Schwägerin zwar tatsächlich bei, zog sich jedoch im entscheidenden Moment zurück, so dass sein Samen lediglich die Erde benetzte. Damit wird deutlich, dass Onans eigentliche »Sünde« keineswegs in Selbstbefriedigung bestand, sondern darin, dass er sich erstens dem Willen Gottes widersetzte und zweitens die Gelegenheit zur Reproduktion verschwendete. »Every sperm is sacred«, jede Spermie ist heilig – das sangen ja schon Monty Python.
Nun gelangten Tabuforscher jedoch zu der Erkenntnis, dass das Masturbationsverbot wesentlich älter ist als die jüdisch-christlichen Glaubenssysteme, die zu seiner Rechtfertigung herbeigezogen werden. Selbstbefriedigung wurde in der Frühgeschichte nicht als moralisch falsch oder Charakterfehler bewertet, sondern als Verschwendung einer Gelegenheit, Nachkommen zu zeugen, sowie von körperlicher Energie, Manneskraft. Logischerweise stand weibliche Masturbation bei weitem nicht so sehr im Zentrum dieses Tabus wie männliche.
Auch in unserem Zeitalter, in dem das Zeugen immer neuer Nachkommen längst nicht mehr von überragender Bedeutung für den Fortbestand von Völkern oder gar der Menschheit ist, hielt die katholische Kirche lange an diesem Tabu fest. Traktate aus dem vorigen Jahrhundert bezeichnen Selbstbefriedigung als »das stillschweigend übersehene Monster in unserer Mitte«. Noch am 29. Dezember 1975 ließ Papst Paul VI in einer »Kongregation für die Glaubenslehre« verlauten: »Tatsache ist, dass sowohl das kirchliche Lehramt in seiner langen und stets gleichbleibenden Überlieferung als auch das sittliche Empfinden der Gläubigen niemals gezögert haben, die Masturbation als eine zumindest schwer ordnungswidrige Handlung zu brandmarken.« 1994 bezeichnete Papst Johannes Paul II. die weibliche Onanie als sündige Wollust, die männliche ließ er als organisch bedingtes Übel gerade noch mal durchgehen. Man mag spekulieren, wie er zu jenem Entschluss gekommen sein mag …
Andererseits, so könnte man einwenden, war die Kirche – im Vergleich zu ihrer sonstigen Sexual- und Leibfeindlichkeit – gegenüber der Selbstbefriedigung geradezu noch zurückhaltend eingestellt. So steht im Pönitenzbuch von Cummean auf Homosexualität noch sieben Jahre Kerker und auf Hurerei drei Jahre, aber einen Onanisten ließ man laufen, indem man ihm ein wenig Psalmensingen und einen Tag Fasten auferlegte – etwas, was viele Gläubige gerne von sich aus taten. Und der Jesuitenpater Ignatius von Loyola erwähnt in seinen Geistigen Exerzitien, in denen er Todsünden von Lässlichkeiten unterscheidet, das Masturbieren nicht einmal. Insofern kann man sagen, dass die katholische Kirche das Wichsen wohl nicht gerade als eine Form der hochstehenden spirituellen Meditation betrachtet hat, sie machte aber auch keinen Riesenaufstand deswegen: Mein Gott, Schwamm drüber.
Der wahre Terror begann erst mit dem sogenannten Zeitalter der Aufklärung und der Wissenschaft. Oder was man damals dafür hielt.
Der Spaß begann 1710, als ein englischer Doktor namens Bekkers sein Buch »Onania, oder die erschröckliche Sünde der Selbstbefleckung« (auf deutsch Leipzig 1736) herausbrachte. Bekkers gilt damit mit Bezug auf den biblischen Onan als Erfinder des Wortes Onanie. Wie man schon ahnt, war er kein großer Fan davon. Im Gegenteil: Für ihn stellte sie ganz in der kirchlichen Tradition eine »himmelschreiende Sünde« dar, die einem Mord gleichkam, weil sie Samen verschwendete, der menschliches Leben hätte zeugen können. Hätte Bekkers also auch jede Gelegenheit zu einem guten Fick mit der Möglichkeit zur Kinderzeugung, die man nicht wahrnahm, als einer Tötung gleichgestellt betrachtet? Wohl kaum. Er war vor allem von der damals kursierenden »Säftetheorie« beeinflusst, der zufolge jeder Mensch nur über eine bestimmte Menge von Körpersäften (Blut, Sperma etc.) verfügte. Irgendwann stand keine Munition mehr zur Verfügung, weil der betreffende Mann sie zu voreilig verschwendet hatte. Heute wissen wir natürlich, dass diese Körperflüssigkeiten ständig nachgebildet werden.
Wie man bei Bekkers erkennt, war im achtzehnten Jahrhundert die Wissenschaft noch immer stark durch den christlichen Glauben beeinflusst. Auch bedeutendste Forscher wie Isaac Newton sahen sich in erster Linie als Christen. Nur ging Bekkers jetzt daran, wie so viele vor und nach ihm, sein persönliches Weltbild scheinbar wissenschaftlich zu »untermauern«. Und damit erzeugte er die Mär von der Gesundheitsgefährdung durch Onanie. Seiner Darstellung nach führte sie zu den verschiedensten Leiden, darunter Schwindsucht, Epilepsie, Erektionsschwächen, feuchte Träume und Unfruchtbarkeit.
Nun kann kein Mensch einen Blödsinn verzapfen, der groß genug ist, dass sich nicht irgendein anderer begeistert diesem Unfug anschließt. In Bekkers’ Fußstapfen trat recht bald der Schweizer Arzt Samuel-Auguste Tissot, der 1760 (manche Quellen nennen andere Jahreszahlen) seine Dissertation »Von der Onanie, oder Abhandlung über Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren« veröffentlichte. Darin war von weiteren, noch viel schlimmeren Erkrankungen die Rede. Der Text erschien in mehreren Auflagen und in verschiedenen Sprachen. Andere Mediziner begannen, sich daran zu orientieren, und veröffentlichten (insbesondere in Amerika, Frankreich, Deutschland und England) ihre eigenen Traktate dieser Art. So hieß es bald von ärztlicher Seite, Onanie würde das Gehirn derart austrocknen, dass man »es in der Hirnschale rasseln hörte«. Von einem achtjährigen Jungen als Fallbeispiel hieß es, er onaniere seit mehreren Jahren, hätte fast pausenlos Erektionen, und diese Gewohnheit habe seine Kopfform dermaßen verändert, dass seine Mutter allmählich Mühe hatte, noch einen passenden Hut zu finden. Das Gehirn eines anderen Jungen, eines Dreizehnjährigen, soll zu zwei Dritteln mit Eiter bedeckt gewesen sein. Mittlerweile galt die Ansicht, dass Masturbation körperliche, geistige oder seelische Schädigungen hervorrief, bei sämtlichen führenden Ärzten und Psychiatern als allgemeiner Kenntnisstand, aus dem man genausowenig ausbrechen konnte, wie wenn heutzutage ein Mediziner behaupten würde, dass Menschen Gedanken lesen oder sich die Seele vom Körper trennen könnte.
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